Russische Soldaten vor Donezk: Klare Hinweise, viele Fragen

Kiew · In einer dramatischen Rede spricht Präsident Poroschenko von russischen Truppen in der Ukraine. Beweise bleibt er schuldig. Dass Russen in der Ukraine kämpfen, räumen sogar die Separatisten ein. Experten bezweifeln aber ein Engagement regulärer Truppen Moskaus.

 Videobilder russischer Soldaten, die von ukrainischen Spezialeinheiten am Dienstag in der Region Donezk festgenommen wurden. Foto: Ato

Videobilder russischer Soldaten, die von ukrainischen Spezialeinheiten am Dienstag in der Region Donezk festgenommen wurden. Foto: Ato

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Für seine Hiobsbotschaft vom angeblichen Einmarsch der Russen hätte der ukrainische Präsident Petro Poroschenko keine dramatischere Kulisse wählen können. In die Ukraine seien russische Truppen gebracht worden, sagt der Staatschef mit Grabesstimme in einer Fernsehansprache.

Er steht auf dem Rollfeld eines Flughafens in Kiew, im Hintergrund heulen die Düsen der Regierungsmaschine. Doch Poroschenko fliegt nicht ab. "Ich habe einen Besuch in der Türkei abgesagt. Der Platz des Präsidenten ist heute in Kiew", sagt der prowestliche Staatschef mit leichenbitterer Miene.

Fünf Monate nach der Annexion der Halbinsel Krim sollen russische Truppen hinter der ukrainischen Grenze mehrere Orte besetzt haben. Von einer "zweiten Front" im verlustreichen Kampf der Armee gegen moskautreue Separatisten ist die Rede. Doch während Poroschenko eine Sondersitzung des Sicherheitsrats in Kiew einberuft, lässt der Kreml Diplomaten und Abgeordnete den vermeintlichen Einmarsch am Asowschen Meer als "Lüge" dementieren.

Die "erste Garde" der Atommacht, also etwa Präsident Wladimir Putin oder Außenminister Sergej Lawrow, äußert sich zunächst nicht. Schon mehrfach hatte die Führung in Kiew von russischen Truppen gesprochen, aber nie Beweise vorgelegt. Auch die Nato berichtet am Donnerstag von russischem Militärengagement.

Als zweifelsfrei gilt mittlerweile, dass russische Soldaten in der Ukraine mitkämpfen. Dies räumen sogar die Aufständischen ein. Insgesamt "3000 bis 4000" Russen hätten in der Ukraine zu den Waffen gegriffen, sagt Separatistenführer Andrej Sachartschenko.

Er spricht von ehemaligen russischen Berufssoldaten oder regulären russischen Soldaten, die "ihren Urlaub an der Front verbringen" würden. "Sie kämpfen mit uns, weil sie dies als ihre Pflicht verstehen", behauptet Sachartschenko. Das dies ohne Duldung des Kremls geschehen könnte, halten selbst Experten in Moskau für unwahrscheinlich.

Vorwürfe einer gezielten Militärhilfe der Aufständischen hat Russland stets zurückgewiesen. Aber es häufen sich Berichte über russisches Engagement. Unter Geheimhaltung würden verwundete Soldaten in einer Klinik in St. Petersburg gepflegt, sagt Ella Poljakowa vom Verband der Soldatenmütter.

Zuletzt hatten Medien in Moskau auch über Beerdigungen russischer Soldaten berichtet, die in der Ukraine getötet worden seien. "Wir haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass es unter uns viele Russen gibt, ohne deren Hilfe wir es sehr schwer hätten", sagt der Separatistenführer Sachartschenko. "Leider gab es auch Tote."

Beobachter sehen allerdings die Lage vor allem für die ukrainische Armee dramatisch. Die prorussischen Separatisten erzielen seit Beginn ihrer Gegenoffensive massive Geländegewinne, heißt es. Etwa 300 Kilometer der russisch-ukrainischen Grenze von Lugansk bis Nowoasowsk stehen vermutlich unter ihrer Kontrolle. Auch bei Lugansk und Donezk drängen sie die Armee zurück. Tausende Soldaten sollen eingekesselt sein. In Kiew fordern Demonstranten bereits offen den Rücktritt von Verteidigungsminister Waleri Geletej. Es wäre der dritte abgelöste Ressortchef seit dem Regierungswechsel im Februar.

Poroschenkos Gegner werfen dem Staatschef vor, die jetzige Mitteilung vom russischen Einmarsch auch aus taktischen Erwägungen gemacht zu haben. Am Donnerstag begann offiziell der Wahlkampf vor der Parlamentswahl am 26. Oktober, und Poroschenko braucht Stimmen aus dem antirussischen Lager. An diesem Freitag soll der Internationale Währungsfonds (IWF) über neues Geld für das nahezu bankrotte Land entscheiden. Am Samstag reist Poroschenko zu den EU-Spitzen nach Brüssel, in der kommenden Woche tagt die Nato in Wales. Dies sei eine gute Gelegenheit, jetzt die Aufmerksamkeit auf die Ukraine zu lenken.

In Moskau erinnern Experten daran, dass Putin zuletzt mehrfach ein schnelles militärisches Eingreifen in der Ukraine ausgeschlossen hatte. Eine förmliche Vollmacht dafür hatte der Präsident demonstrativ zurückgegeben. Und kurz bevor Poroschenko seine dramatische Mitteilung macht, gibt der Kreml eine andere Erklärung heraus: Zwar sei der Krisengipfel in Minsk am vergangenen Dienstag recht ergebnislos verlaufen, Dialog sei aber wichtig. Putin und Poroschenko sollten sich wieder treffen - "möglichst bald".

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