Wahlbeteiligung auf Rekordtief Der Macron-Tsunami: Triumph ohne Begeisterung

Paris · Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die alten Großparteien scheinbar im Handstreich bedeutungslos gemacht. Die Parlamentswahl ist eine weitere Zäsur für Frankreich - doch Macrons erdrückende Mehrheit ist auch trügerisch.

 Wenig Betrieb: Viele Nichtwähler begründeten ihre Entscheidung mit Enttäuschung über die Politik; manche auch damit, dass Macrons Partei ja ohnehin gewinne.

Wenig Betrieb: Viele Nichtwähler begründeten ihre Entscheidung mit Enttäuschung über die Politik; manche auch damit, dass Macrons Partei ja ohnehin gewinne.

Foto: Laurent Cipriani

Das Verdikt scheint eindeutig: "Macron ohne Opposition", titelt die Tageszeitung "Le Monde". Nach der ersten Runde der Parlamentswahl reibt sich Frankreich die Augen über diesen Tsunami, der über die politische Landkarte hinweggefegt ist.

Er hat ein Trümmerfeld bei den alten Großparteien hinterlassen - und einen kraftstrotzenden Präsidenten Emmanuel Macron, der nun alle zentralen Fäden in der Hand hält.

Die bürgerliche Rechte ist selbst in Hochburgen wie dem noblen 16. Pariser Stadtbezirk in Gefahr. Die Sozialisten stehen gar vor der Existenzfrage, ihr Parteichef ist in seinem Wahlkreis schon im ersten Wahlgang ausgeschieden. Und die Hoffnungen der rechtsextremen Front National, mit einem symbolischen Erfolg die Schlappe der Präsidentenwahl wettzumachen, sind zerplatzt.

Macron dürfte im entscheidenden zweiten Wahlgang am Sonntag freie Hand für sein Reformprogramm bekommen, das die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurozone wieder nach vorne bringen soll. Doch die erdrückende Mehrheit, die seiner Partei in der Nationalversammlung prophezeit wird, ist ein Stück weit trügerisch.

Zweifellos verbreitet der junge Staatschef Aufbruchstimmung. Und die Kandidatur zahlreicher Politik-Neulinge auf Macron-Ticket erfüllt den Wunsch nach Erneuerung eines verkrusteten politischen Systems. Es ist aber nicht so, als ob Frankreich plötzlich komplett im Banne einer Macron-Manie stünde.

Eine Zahl zeigt das sehr deutlich: Wenn Frankreichs Wahlberechtigte ein Dorf mit 100 Einwohnern wären, hätten gerade 15 für die Kandidaten von Macrons Partei gestimmt. 51 wären zuhause geblieben; die Wahlbeteiligung erreicht ein historisches Tief. Selbst der Sprecher von La République en Marche räumt am Montag ein, dass es ein "Missverhältnis" gebe zwischen dem Stimmergebnis der Partei und der Zahl ihrer erwarteten Sitze - die Hebelwirkung des Mehrheitswahlrechts ist diesmal ganz besonders deutlich.

Viele Nichtwähler begründeten ihre Entscheidung laut einer Ipsos-Umfrage mit Enttäuschung über die Politik; manche auch damit, dass Macrons Partei ja ohnehin gewinne. Von den Anhängern der nationalistischen FN und der Linkspartei La France Insoumise gingen besonders wenig Menschen wählen. Die Spaltungen des Landes, die bei der Präsidentenwahl zutage traten, sind nicht plötzlich hinweggefegt.

"Es ist ein Triumph ohne Begeisterung", analysiert die linksliberale Zeitung "Libération". ""Man muss ihm seine Chance lassen" war der Satz, der in diesem merkwürdigen Wahlkampf am häufigsten auf den Märkten zu hören war." Diese Chance bekommt Macron - und wie. Laut den Schätzungen der Umfrageinstitute könnte sein Lager beim zweiten Wahlgang mehr als drei Viertel der 577 Abgeordnetensitze erringen.

Die bürgerliche Rechte um die Republikaner kann sich daran festklammern, dass sie noch die sichtbarste Oppositionsgruppe im Parlament werden dürfte. Falls es gut läuft am Sonntag, könnte sie immerhin noch die Marke von 100 Sitzen knacken. Doch auch das ist noch ein Schock für die Partei, die vor wenigen Monaten von einem klaren Durchmarsch an die Macht ausgegangen war.

Nach der Wahl droht der Partei von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy eine schwierige Strategiedebatte. Viele Konservative stehen einer Zusammenarbeit mit der Regierung offen, die Macron in taktischer Raffinesse in die Hände des bürgerlichen Regierungschefs Edouard Philippe gelegt hatte. Doch da Macron auf ihre Unterstützung überhaupt nicht angewiesen ist, fehlt ein Druckmittel.

Immerhin hat das bürgerliche Lager das Sagen im Senat, der zweiten Parlamentskammer. Doch letztlich ist auch dieser Einfluss beschränkt, denn die Nationalversammlung hat das letzte Wort.

Noch schwerer wird es die Linke haben, sich Gehör zu verschaffen. Die Sozialistische Partei liegt nach fünf Jahren an der Macht am Boden - ob sie sich wieder aufrappelt, ist höchst fraglich. Ihr rechter Flügel findet sich eher bei Macron wieder als in der nach links gerückten Linie des eigenen Hauses.

Bestes Beispiel: Ex-Premier Manuel Valls, der ohne Partei-Etikett für das Parlament antritt und sich der Präsidentenmehrheit anschließen möchte. Zur Linken der Sozialisten steht wiederum Jean-Luc Mélenchon mit La France Insoumise, der mit radikaleren Forderungen an ihnen vorbeigezogen ist.

Die fast einfarbige Nationalversammlung könnte dazu beitragen, dass Gegner von Macrons Politik nur der Ausweg auf die Straße bleibt. Die Gewerkschaft CGT etwa dürfte die angekündigte Lockerung des Arbeitsrechts nicht ohne Proteste passieren lassen. Doch der Staatschef braucht nun nicht um seine Mehrheit zu fürchten - so etwas verschafft in der Politik ein dickes Fell.

Macron hat geschafft, was noch vor ein paar Monaten unmöglich schien. Das gibt ihm Spielraum, verdonnert ihn nun aber auch zum Erfolg. "Le Figaro" resümiert: "Emmanuel Macron hat das alte System zerstört. Er hat das Land noch nicht vollständig begeistert."

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