Analyse: In Europa wächst die Unruhe

Brüssel · Das offizielle Brüssel gibt sich mit Blick auf das Schottland-Referendum einsilbig und scheinbar unberührt. Die EU-Kommission halte sich aus internen Angelegenheiten der Mitgliedstaaten heraus, lautet die Linie aus dem Haus von Behördenchef José Manuel Barroso.

 Schott- oder England? Banknoten der Royal Bank of Scotland und der Bank of England. Foto: Tim Brakemeier

Schott- oder England? Banknoten der Royal Bank of Scotland und der Bank of England. Foto: Tim Brakemeier

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Unmittelbar vor der Abstimmung am Donnerstag ist aber hinter den Kulissen des EU-Betriebs deutliche Unruhe zu spüren. Denn Europa fehlt jegliche Blaupause für den Fall, dass sich die Schotten für eine Abtrennung vom restlichen Königreich aussprechen sollten.

Der Lissabonner EU-Vertrag erwähnt zwar einen möglichen Austritt eines Mitgliedslands. Doch die Aufspaltung eines EU-Lands wird in dem Rechtstext gar nicht erwähnt.

Kleinstaaterei? Nein danke! - so oder ähnlich lässt sich die Argumentation von EU-Verantwortlichen zusammenfassen. Die Kommission machte bisher keinen Hehl daraus, in der Frage einer schottischen Unabhängigkeit hinter London zu stehen. Die Europäischen Verträge würden nicht mehr für einen Landesteil gelten, der unabhängig geworden sei, schrieb Barroso schon 2012 an das britische Oberhaus.

Das neu entstandene Land sei ein "Drittstaat", der sich bei der EU neu bewerben müsse. Ein Beitritt müsste dann - wie üblich - von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig gebilligt werden. Barroso sagte deshalb im Februar dem Sender BBC, ein EU-Beitritt werde für Schottland "sehr schwierig, wenn nicht unmöglich".

Auch die Nato fährt diesen Kurs. "Wenn ein neuer unabhängiger Staat der Nato beitreten möchte, dann muss er die Mitgliedschaft beantragen", resümiert der scheidende Generalsekretär des Bündnisses, Anders Fogh Rasmussen.

Angesichts einer möglichen Abspaltung werden neue Turbulenzen an den Finanzmärkten befürchtet. Schottische Großbanken kündigten bereits an, im Falle eines "Ja" zur Unabhängigkeit ihre Geschäfte unter englischer Lizenz weiterzuführen.

Separatismus ist in Brüssel ein Tabuthema, weil mehrere Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Intensität betroffen sind. In Katalonien, der wirtschaftsstärksten Region Spaniens, werden Rufe nach Unabhängigkeit zunehmend lauter. Für den 9. November ist ein rechtlich äußerst umstrittenes Referendum geplant, das von der Madrider Zentralregierung nicht anerkannt wird.

Die frühere Kommissions-Vizechefin Viviane Reding warnte die Katalanen bereits: "Einige Sekunden nach der Wahl für die Unabhängigkeit wäre Katalonien außerhalb der EU. Sie würden außerhalb des Euro-Systems sein. Sie würden die EU-Bürgerschaft nicht mehr haben."

In Belgien wenden sich viele Bürger der reichen Region Flandern vom Zentralstaat ab - die flämische Separatistenpartei N-VA wird künftig sogar in der neuen Mitte-Rechts-Regierung in Brüssel vertreten sein.

Spötter sagen, Belgien werde nur noch vom Königshaus und dem riesigen staatlichen Schuldenberg von über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung zusammengehalten. Denn mit alten Schulden wolle sich kein neuer Staat belasten.

Das Vereinigte Königreich kommt auf Staatsschulden von immerhin 92 Prozent der Wirtschaftsleistung - wie und unter welchen Bedingungen diese im Fall der Unabhängigkeit Schottlands aufgeteilt werden sollen, bleibt unklar. Ob ein Neu-Mitglied Schottland den Euro einführen muss oder weiter von der britischen Ausnahme profitieren kann, bei der Gemeinschaftswährung außen vor zu bleiben, steht ebenfalls in den Sternen.

In der rechtlichen Grauzone wuchern Spekulationen und Szenarien. So meinen Anhänger der Unabhängigkeit, Schottland könne über eine Änderung der EU-Verträge (Artikel 48) von März 2016 an übergangslos neues Mitglied der Europäischen Union sein.

Der Haken dabei ist jedoch, dass Vertragsänderungen nur einstimmig von allen EU-Hauptstädten beschlossen werden können - und dazu gehören eben auch London oder Madrid. Im Gespräch ist auch eine neue Auslegung des Artikels 49, der den Beitritt von Staaten regelt. In Schottland gelte ja bereits EU-Recht, sagen die Verfechter dieser Linie.

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