GA-Serie "Macht und Mehrheit" Wahlforscher: „Wir entscheiden nicht rein rational“

Bonn · Warum wählen wir, was wir wählen? Der Düsseldorfer Politik-Professor Stefan Marschall betreut den Wahl-O-Mat wissenschaftlich. Ein Gespräch über den Zustand der Parteienlandschaft, die Rolle von Meinungsforschern und eingelöste Wahlversprechen.

Alle vier Jahre haben wir im Bund die Wahl – ist das eine gute Idee?

Stefan Marschall: Regelmäßige Wahlen sind eine hervorragende Idee. Sie geben den Wählern Gelegenheit zu überprüfen, ob die gewählte Regierung ihre Sache gut macht, und ansonsten etwas daran zu ändern.

Eine Wählerstimme ist wie ein Freibrief für die Zukunft. Machen die Gewählten nach der Wahl erst einmal, was sie wollen?

Marschall: Gegen eine solche Einstellung hilft der Föderalismus. Mit dem Bund und den 16 Ländern haben wir praktisch in jedem Jahr irgendwo Wahlen. Die Bürger nutzen beispielsweise Landtagswahlen auch dazu, um schlechte Politik im Bund mit Stimmenentzug unmittelbar zu ahnden. Zum anderen muss eine Wiederwahl gut vorbereitet werden. Man kann die Wähler nicht mit Aktionismus in den letzten drei Monaten einer Legislaturperiode täuschen.

Warum wählen wir überhaupt, wen wir wählen?

Marschall: Drei Faktoren sind entscheidend: Die Partei, die man generell favorisiert, die Kandidaten, die zur Wahl stehen, und inhaltliche Angebote. In dieser Gemengelage entscheiden wir nicht rein rational. Auch Intuition und das Bauchgefühl spielen eine Rolle.

Welchen Anteil haben Herkunft und Milieu?

Marschall: Wir finden in Deutschland noch eine Parteiidentifikation auf relativ hohem Niveau mit entsprechender Wahlpräferenz. Über Jahrzehnte wurde diese Bindung aber kontinuierlich schwächer.

Liegt der Unterschied eher zwischen Stadt und Land oder zwischen Bildungs- und Einkommensschichten?

Marschall: Das ist eher eine Generationenfrage. Menschen der älteren Generationen sind stärker an eine Partei gebunden als Jüngere. Ich würde nicht darauf setzen, dass die Jüngeren sich ebenfalls stärker binden, wenn sie selbst älter werden. Es deutet viel darauf hin, dass die Parteien künftig stärker um ihre Anhänger werben müssen.

Können wir dann überhaupt noch von Volksparteien sprechen?

Marschall: Im Moment sehen wir CDU/CSU und SPD noch als Parteien an, die breitere Wählergruppen repräsentieren können. Eine sichere Bank ist das aber nicht mehr. Der Wettbewerb hat spürbar zugenommen.

Trotzdem wird oft ein Mangel an Alternativen beklagt. Sind die etablierten Parteien sich zu ähnlich und haben radikale Kräfte an den Rändern deshalb mehr Zulauf bekommen?

Marschall: Die großen Koalitionen der vergangenen Jahre haben die klassische Lagerbildung teilweise aufgehoben. Das ist ja notgedrungen so. Große Koalitionen führen zum Drängen in die Mitte. Sie verwischen inhaltliche Unterschiede. Damit entstehen tatsächlich Leerstellen an den Rändern.

Der Wahl-O-Mat soll Unterschiede deutlicher machen. Hat das Instrument zu mehr Sachlichkeit im Wahlkampf geführt?

Marschall: Dafür hat der Wahl-O-Mat eine zu geringe Ausstrahlung auf den Gesamtwahlkampf. Aber in der Tat ist es ein rein sachlich und inhaltlich orientiertes Vergleichswerkzeug. Die diversen Social-Media-Kanäle tragen hingegen dazu bei, dem Wahlkampf eine aggressivere Tonlage zu geben.

Haben die wirklich nennenswerten Anteil an der Meinungsbildung vor Wahlen?

Marschall: Alle Parteien setzen darauf. Der Effekt ist schwer absehbar. Wir vermuten, dass bei der Mobilisierung von Wählern und bei der Skandalisierung von Themen soziale Medien eine große Rolle spielen. Interessant ist allerdings auch, dass Social Media häufig genutzt wird, um Thema in den klassischen Medien zu werden. Wenn Frau Merkel sich von Youtubern interviewen lässt, dann ist das auch eine symbolische Handlung, um sich in Zeitungen und im Fernsehen als modern und zeitgemäß zu präsentieren.

Die Parteien machen vor der Wahl jedenfalls viele Versprechungen. Wie verlässlich sind diese aus Sicht des Politikwissenschaftlers?

Marschall: Wahlversprechen werden nicht eingehalten – das würde man erwarten. Wir haben das anhand der Aussagen im Wahl-O-Mat untersucht. Das Ergebnis hat uns selbst überrascht. Ein Großteil der Ankündigungen wurde tatsächlich umgesetzt. Das ist umso erstaunlicher, als Regieren fast nie ohne eine Koalition mit anderen Parteien geht, in der eine Partei nur einen Teil ihrer Forderungen durchbringen kann.

Der Anteil der Unentschlossenen wächst. Wie müssen die Parteien sich darauf einstellen?

Marschall: In Nordrhein-Westfalen wusste rund die Hälfte der Wähler ein paar Wochen vor dem Wahltag nicht, wem sie ihre Stimme geben würde. Im Bund ist das zwar etwas anders, weil wir alle von der Bundespolitik mehr mitbekommen. Aber tatsächlich verlangen Wahlkämpfe den Parteien und ihren Kandidaten heute mehr ab. Diese müssen mehr Ressourcen investieren – und auf die richtigen Themen setzen.

Wie beeinflussen Meinungsforscher mit ihren Prognosen den Wahlausgang?

Marschall: Bürger nehmen Wahlprognosen intensiv wahr. Es gibt mobilisierende Effekte, wenn Wähler bestimmte vorhergesagte Konstellationen verhindern wollen. Es gibt auch hemmende Effekte, indem Wähler sich in Sicherheit wiegen und ihre Stimme für überflüssig halten. Wie stark die ausfallen, lässt sich kaum absehen.

Die Szenarien lagen in jüngster Vergangenheit wiederholt daneben. Werden Wähler mit Prognosen vielleicht auf eine falsche Fährte gelockt?

Marschall: Die Unsicherheit vieler Wähler und damit des Wahlausgangs spiegelt sich eben nicht in den Prognosen. Darauf wird nach meiner Ansicht viel zu wenig hingewiesen. Letztlich ist die Sonntagsfrage nur ein Stimmungsbild. Je weniger fest die Parteibindungen sind, desto schwieriger werden künftig Wahlvorhersagen.

Wenn Sie selbst einmal in die Glaskugel schauen: Erwarten Sie größere Veränderungen im deutschen Parteienspektrum?

Marschall: Verglichen etwa mit Frankreich oder den Niederlanden, wo alte Volksparteien marginalisiert wurden, haben wir in Deutschland ein hohes Maß an Stabilität. Zwar hat die AfD eine gewisse Repräsentationslücke für sich entdeckt. Aber das Gesamtsystem halte ich für sehr stabil.

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