Interview mit Sylvia Löhrmann "Ich war nie eine Verfechterin von G8"

Bonn · Geht es nach Schulministerin Sylvia Löhrmann sollen sich nordrhein-westfälische Schulen nicht mehr auf ein Lernmodell - G8 oder G9 - festlegen müssen. Stattdessen fordert sie flexible Lernzeiten. Was es mit dem Plan auf sich hat, verrät sie im GA-Interview.

 "Herr Laschet müsste viele Positionen räumen, gerade in der Umwelt- und Energiepolitik. Da sehe ich im Moment kaum Übereinstimmung", sagt die Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann.

"Herr Laschet müsste viele Positionen räumen, gerade in der Umwelt- und Energiepolitik. Da sehe ich im Moment kaum Übereinstimmung", sagt die Grünen-Politikerin Sylvia Löhrmann.

Foto: Westhoff

Vor wenigen Wochen ist Schulministerin Sylvia Löhrmann zum dritten Mal Spitzenkandidatin der NRW-Grünen für eine Landtagswahl geworden. Mit ihr sprachen Bernd Eyermann und Helge Matthiesen.

Neulich in der ZDF-"heute show" sind Sie mit dem Satz zitiert worden: "Wir wollen, dass jedes Kind glaubt, dass es gleiche Chancen hat". Wie fanden Sie das?
Sylvia Löhrmann: Ach, bei der "heute show" komme ich damit gut klar.

Sollen Kinder nur glauben, dass sie gleiche Chancen haben, oder sollen sie diese wirklich haben?
Löhrmann: Wichtig ist doch, dass wir dem Aufstiegsversprechen, das in unseren Gesetzen zurecht angelegt ist, Nachdruck und Wirkung verleihen. Im Innersten muss jedem Kind klar sein, dass es der Staat und die Gesellschaft mit den gleichen Chancen für alle ernst meinen. Das war der Kontext des Zitates.

Wie lange wird es denn in Nordrhein-Westfalen noch dauern, bis jedes Kind gleiche Chancen hat?
Löhrmann: Es ist erfreulicherweise so, dass sich die Schere etwas schließt. Wir sind bei den internationalen Pisa-Studien in den letzten 15 Jahren überall besser geworden, aber noch nicht gut genug. Das ist aber ein Problem des deutschen Bildungssystems insgesamt, nicht allein Nordrhein-Westfalens.

Was ist denn in NRW im Fach Deutsch los? Bei der jüngsten nationalen Vergleichsstudie unter der Neuntklässlern lagen die Leistungen ziemlich weit hinten.
Löhrmann: Es ist differenzierter. Bei den meisten Kategorien lagen wir im breiten Mittelfeld, nur bei der Rechtschreibung am unteren Ende. Dafür sind wir in Englisch im oberen Mittelfeld. Wir sollten deshalb schauen, was andere Länder besser machen und daran anknüpfen. Zu berücksichtigen ist, dass wir in Nordrhein-Westfalen viele Großstädte und soziale Milieus haben, in denen die Herausforderungen größer sind und die wir noch stärker unterstützen müssen.

Warum gibt es in Nordrhein-Westfalen eigentlich immer noch keine genaue Auflistung über fehlende Unterrichtsstunden? Will man das nicht oder geht das nicht?
Löhrmann: Wir wollen das bisherige Stichprobenverfahren nach intensiven Beratungen mit Fachleuten verfeinern. An der bisherigen Stichprobe haben sich zurecht die Eltern von Kindern gestoßen, an deren Schulen mehr Unterricht als im Durchschnitt ausfällt. Wichtig ist mir aber, dass wir auch qualitativ auf die Unterrichtsentwicklung schauen. Denn entscheidend ist, was und wie die Kinder lernen.

Was meinen Sie damit?
Löhrmann: Wir wollen den Anspruch auf individuelle Förderung noch stärker mit Leben zu füllen. Wir haben das Budget für Lehrerfortbildungen erhöht und uns darauf verständigt, was eine gute Schule ausmacht. Damit können wir die Schulen nun besser begleiten.

Grundschulen klagen, dass es zu wenige Lehrerinnen und Lehrer gibt. Schaffen Sie da Abhilfe?
Löhrmann: Wir haben insgesamt eine ordentliche Lehrerversorgung. Von 25.000 Grundschulstellen sind zurzeit knapp 400 nicht besetzt. Das hat damit zu tun, dass die Ausbildungszeit verlängert worden ist und die Lehrerinnen und Lehrer später ins Referendariat kommen. Bestimmte Regionen haben Probleme bei der Stellenbesetzung. Das versuchen wir jetzt zu überbrücken.

Sie haben lange am G8 festgehalten. Warum haben Sie jetzt einen neuen Vorschlag gemacht?
Löhrmann: Ich war nie eine Verfechterin von G8. Wir haben in den letzten Jahren einen breiten Konsens mit vielen Beteiligten erzielt, und die Gymnasien sind einen intensiven Entwicklungsweg gegangen. Weil aber inzwischen die Landeselternschaft der Gymnasien und auch CDU und FDP, früher massive Befürworter des G8, von ihren Positionen abgerückt sind, ist das Feld wieder offen. Deshalb habe ich einen Vorschlag gemacht, der sich nach vorne richtet und an die Entwicklungsprozesse der Schulen anknüpft.

Sie wollen kein G8 und kein G9, sondern flexible Lernzeiten - was ist der Vorteil?
Löhrmann: Unser Vorschlag stellt die Kinder in den Mittelpunkt. Jedes Kind ist anders, manches lernt schneller, ein anderes tut sich schwerer. Aus unserer Sicht soll eine gute Schule jedem Kind zeitlich gerecht werden können. Viele Schulen haben mich schon darin bestärkt, dass dies besser ist als alles auf G9 zurückzudrehen.

Überfordert das nicht die Schulen, die zweigleisig fahren müssen? Es fehlt doch die Klarheit.
Löhrmann: Schauen Sie mal auf die Grundschulen, die sogar drei Modelle parallel anbieten. Dort gibt es den offenen Ganztag, den gebundenen Ganztag und den Halbtagsunterricht, teilweise in einer Schule. Das wird den unterschiedlichen Lerntypen und den Ansprüchen der Eltern gerecht. Nicht die Kinder müssen in die Schule der Zukunft hineinpassen, sondern wir müssen das Schulsystem so weiterentwickeln, dass es den Lernfortschritten und den Potenzialen der Kinder bestmöglich gerecht wird. Darum G8 und G9 an jedem Gymnasium.

Haben Sie schon mal ausgerechnet, was bei Ihrem Modell zusätzlich an Lehrern, Geld und Fortbildung erforderlich ist?
Löhrmann: Das hängt ja davon ab, wie lange die Kinder in der Schule sind. Sitzenbleiber lösen auch zusätzliche Kosten aus. Diese sind nicht planbar. Am Gymnasium geht vielleicht ein Drittel der Kinder einen längeren Weg, dafür gehen 20 Prozent der Gesamtschüler schneller durchs System. Aber klar ist: Wir werden die Ressourcen, die wir dafür brauchen, zur Verfügung stellen. So, wie wir das in den letzten Jahren auch getan haben.

Mit den neuen Lernformen wird mancher Lehrer Probleme haben.
Löhrmann: Deshalb werden wir die Fortbildung dafür auch intensivieren.

Die Schulen wollten Ruhe. Ihr Vorschlag wird viel Unruhe bringen.
Löhrmann: Mein Vorschlag bringt am wenigsten Unruhe in die Schulen, weil er das System am wenigsten umbaut. Die 5. und 6. Klasse sollen so bleiben. Weil aber die zweite Fremdsprache erst in der Klasse 7 eingeführt wird, schaffen wir ein bisschen mehr Luft bei den Kleineren. Ab Klasse 7 wird dann überlegt, was am besten zu dem Kind passt, ob es in drei oder in vier Jahren die Mittelstufe schafft. Wir haben doch heute schon Differenzierungen, in Gesamtschulen etwa Erweiterungs- und Grundkurse. Schulen sind gewöhnt, dass solche Bildungslaufbahnentscheidungen getroffen werden. Und die Oberstufe bleibt, wie sie ist.

Sie haben gesagt, es würden alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung gestellt. Gilt das auch für die Inklusion, auf die viele Schulen nicht vorbereitet waren?
Löhrmann: Inklusion ist ein Menschenrecht und ein Auftrag, der eine große Herausforderung ist. Im klassischen deutschen Schulsystem wird immer noch zu sehr so gedacht: Wir bilden möglichst homogene Gruppen von Kindern, und das ist für deren Lernentwicklung das beste. So denkt auf der Welt sonst niemand. Multikulturen und nicht Monokulturen bringen die besten Ergebnisse. Wir haben die Inklusion nicht übers Knie gebrochen.

Den Eindruck konnte man haben.
Löhrmann: Natürlich verläuft ein solch tiefreifender Veränderungsprozess nicht reibungslos, deshalb steuern wir ja auch nach. Wir geben über eine Milliarde Euro in die Inklusion. 3200 zusätzliche Stellen haben wir geschaffen, jetzt noch einmal knapp 1000 Stellen. Zum einen, weil wir länger als gedacht allgemeine Schulen und Förderschulen parallel haben und zum anderen, weil wir den Schulen noch mehr Zeit und Unterstützung durch Fortbildungen geben wollen.

Streben Sie nach der Wahl wieder eine rot-grüne Koalition an?
Löhrmann: Die Grünen wissen um die Besonderheit von Konstellationen, die nach Wahlen entstehen können und sagen deshalb: Wir wollen stark werden, zweistellig, wollen dritte Kraft bleiben und weiter Verantwortung für Nordrhein-Westfalen übernehmen - gerne wieder mit der SPD. Wenn es aber nicht reicht, sind wir gesprächsfähig mit anderen Parteien, außer der AfD.

Gesprächsbereitschaft auch mit der Linken in Richtung Rot-Rot-Grün?
Löhrmann: Das waren wir auch 2010 ja schon. Und das sind wir weiterhin.

Schwarz-Grün?
Löhrmann: Herr Laschet müsste sehr viele Positionen räumen, gerade in der Umwelt- und Energiepolitik. Da sehe ich im Moment kaum Übereinstimmung. Gespräche unter Demokraten sind für mich eine Selbstverständlichkeit. Zur Person

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