Strukturwandel Glückauf, Bochum!

Bochum · Phönix oder Sisyphos – wo steht das Revier nach Dekaden der Veränderung? Immer am Anfang, das zeigt das Beispiel Opel.

Strukturwandel, dieses sperrige Wort, funktioniert so: Vor dem Krieg fördern 70 Bergwerke in Bochum das „Schwarze Gold“. Dann laufen Öl und Gas der Kohle den Rang ab, die Stahlkrise folgt. Europas Zechenhauptstadt stellt sich neu auf: 1962 lässt sie angesichts der düsteren Prognose die Zeche Bruchstraße schließen, siedelt auf dem Gelände den Autobauer Adam Opel AG an.

Sein Sog ist immens: Tausende Kumpels aus dem Bergbau finden hier neue Arbeit. Halb im Scherz nennt man das Werk die größte Bäckerei oder den größten Friseursalon des Ruhrgebiets, weil so viele fachfremde Kräfte ins Autowerk wechseln, hier ganz neu anfangen in der Hoffnung auf Besseres. „Kumpel war immer ein fester Begriff bei Opel“, sagt Rainer Einenkel, letzter Betriebsratschef, „Glückauf, das war auch das letzte Wort vor der Schließung.“ Seit 2014 ist Opel, jenes Leuchtturmprojekt des Strukturwandels, dicht. Gesucht werden: neue Leuchttürme.

Das letzte Glückauf

Man darf sich Rainer Einenkel nicht als weinerlichen Typen vorstellen, der auf Ruhrpott-Nostalgie macht. Er spricht leise, aber präzise, er zieht schnelle, harte Schlüsse, und je schmerzlicher die Lage, umso ruhiger wird dieser ruhige Mann. Er ist es, der am 8. Dezember 2014 bei der letzten Belegschaftsversammlung das letzte „Glückauf“ zu den letzten Opelanern spricht. Im Februar 2015 beginnt der Abriss des Werks. Der weithin sichtbaren Opel-Blitz verschwindet schnell vom Werksdach, „so tilgt man Biografie“, sagt Einenkel, und korrigiert sich gleich: „Historie“, nicht Biografie.

Aber nennen wir es doch ruhig Biografie: Opel hat Vätern und Söhnen gute Arbeit gegeben, war Lebenspuls für Bochum und andere Ruhrstädte, war Lebensgefühl. Arbeit, Loyalität, Kumpels – das hat im Revier einen besonderen, innigeren Stellenwert. Dass ihre Arbeit nicht mehr gebraucht wurde, weil Opel die Entwicklungen von Diesel- oder SUV-Fahrzeugen verschlief, weil die Zulieferer unter Kostendruck die Qualität senkten, Neueigentümer General Motors (GM) aber parallel in Eisenach oder Sankt Petersburg neue Werke aufmachte – Schwamm drüber.

„Opel Bochum musste fallen, um andere GM-Werke zu finanzieren, es war ein Opfer, damit andere leben konnten“, sagt Einenkel. Nebenan frisst sich ein gelber Abrissbagger wie ein Insekt in die Gebäude, Mauern fallen. So beginnt Veränderung. Mal wieder. „Wenn wir hier durch sind, wird es richtig schön“, steht auf einem Baustellen-Plakat. Einenkels Kommentar dazu: kein Wort.

Zulieferer und Dienstleister gerieten in Abwärtsstrudel

Das Werk war besenrein übergeben worden, halb Vertragspflicht, halb Ehrensache, die Roboteranlagen, Gabelstapler, Werkzeugmaschinen zur Versteigerung freigegeben. Unzählige weitere Zulieferer und Dienstleister sind durch die Schließung in den Abwärtsstrudel geraten, freilich ohne die großzügigen Abfindungen, die die Opelaner bekommen haben.

Einenkel hat 1972 bei Opel eine Ausbildung zum Elektriker begonnen, fast 43 Jahre für Opel gearbeitet. Die Blütezeit Ende der Siebziger, als das Werk 20.500 Beschäftigte zählte, hat er miterlebt. Übrig waren zum Schluss nur noch 3300 Opelaner und 1000 Beschäftigte, die nicht zur Stammbelegschaft gehörten. 600 von ihnen haben neue Jobs, 2600 sind in eine mit über sieben Millionen Euro gepolsterte Transfergesellschaft gekommen – um sich neu zu orientieren. „Nur wo soll die neue Arbeit herkommen“, fragt Einenkel. 500.000 Industriearbeitsplätze sind in den letzten 30 Jahren im Ruhrgebiet verloren gegangen.

Gigantische Firmenansiedlungen sind heute rar. DHL will auf dem Werksgelände zwar ein Megapaketzentrum bauen, doch die geplanten 600 sozialversicherungspflichtigen Voll- und Teilzeitstellen kompensieren nicht die verlorenen Jobs von 2014, Durchschnittsstundenlöhne von elf Euro nicht die Opel-Tarife. Zudem ist Logistik eine flüchtige Branche. Wie lang werden diese Jobs in Bochum bleiben, wann ziehen auch sie weiter?

Bochum 4.0 als einzige Alternative

Im ehemaligen Opel-Verwaltungsgebäude entstehen „Co-Working-Flächen“ und Büros mit flexiblen Grundrissen. Wenn überhaupt, dann ist das Zukunftsmusik für die schätzungsweise 1100 Opelaner, die momentan weder vermittelt noch wie 700 weitere von ihnen im rentennahen Alter sind und zum Jahresende, wenn die Transfergesellschaft endet, endgültig in der Arbeitslosigkeit landen. Strukturwandel bedeutet nicht nur ein Mehr an Dienstleistungs-, Nano-, Bio- und High-Tech-Arbeit, ein Weniger an Fertigungsjobs, es bedeutet auch ein Mehr an befristeten, prekären, schlechter entlohnten, schlechter qualifizierten oder extrem spezialisierten Jobs. Bochum 4.0 ist für viele Opelaner keine Alternative und doch die einzige, die es derzeit gibt.

Natürlich denkt Einenkel die ganze Sache auch vom Standpunkt der Chancen aus. Die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet ist mit zehn Prozent doppelt so hoch wie der Bundesschnitt, jeder Fünfte gilt als arm – das verstellt bisweilen den Blick auf die Chancen. Sein Blick fällt vor allem auf verlorene Chancen. Schon 2010 hatte Einenkel angeregt, am Standort Bochum den DHL-Streetscooter zu bauen und so früh Alternativjobs zu schaffen. „2012 ist die Idee endgültig versandet“, sagt Einenkel, „GM hatte kein Interesse.“ Der Konzern musste in den USA 17 Werke schließen, in Deutschland nur Bochum. Man kann es Managern im fernen Amerika nicht verübeln, dass der Strukturwandel in NRW sie da nicht sentimental stimmt.

„Es geht schon irgendwie weiter“, sagt Einenkel. „Es ist im Ruhrgebiet immer weitergegangen, deshalb ziehen die Menschen hier auch selten weg.“ Man könnte auch sagen: Weil sie die Region stützen, geht es immer weiter. Blickt er optimistisch in die Zukunft? „Ja, das zeichnet uns ja aus“, sagt er, „auch wenn ich finde, dass die Landesregierung für die Region etwas anderes hätte erreichen können.“

Einenkel, 62, klagt weiterhin vor Gericht gegen GM. „Das Bochumer Werk wurde schlecht gerechnet“, sagt er leise. Im September hat er einen Herzinfarkt überlebt, das Werk ist ein Trümmerhaufen. Wozu noch der Kampf? Einenkel: „Ich klage für andere. Jeden aktiengeführten Betrieb kann das Schicksal von Opel Bochum treffen“.

Aber vielleicht ist da noch etwas anderes. Einenkel dokumentiert regelmäßig die Abrissarbeiten, bloggt Fotos – gegen das Vergessen von Biografie, Historie und die Verheerungen des Strukturwandels. „Manche Betonbauten auf dem Gelände sind so stabil, dass sie sich dem Abriss widersetzen“, lächelt er fein. „Das Werk kriegt man eben nicht ganz klein. Es ist so klein, stur und dickköpfig wie wir.“

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