Interview mit Hannelore Kraft "Flüchtlinge mit Herzlichkeit aufnehmen"

Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spricht im GA-Interview über Integration, den Länderfinanzausgleich, das Bonner Festspielhaus und den CDU-Landesvorsitzenden Armin Laschet

Kein Thema bestimmt die innenpolitische Debatte so sehr wie das Thema Flüchtlinge. Darüber sprachen mit der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) Bernd Eyermann, Ulrich Lüke und Helge Matthiesen.

Reicht es, mehr Geld für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen?
Hannelore Kraft: Nein, es geht auch um die Verstärkung der Integrationsbemühungen, beispielsweise um mehr Sprachförderung. Ich bin insbesondere sehr dankbar für das starke ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger.

Ist der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen ein kurzfristiges Phänomen?
Kraft: Wenn ich mir die weltpolitische Lage anschaue, dann müssen wir uns darauf einstellen, dass der Zustrom noch länger anhält. Doch wir können das schaffen. Insbesondere wenn Bund, Länder und Kommunen eng zusammenarbeiten und sich als Verantwortungspartnerschaft verstehen. Da sind wir auf einem guten Weg.

Bekommen Sie manchmal einen heiligen Zorn, wenn Sie sehen, wie andere EU-Staaten mit dem Thema umgehen?
Kraft: Ich bin darüber ehrlich gesagt schon verwundert. Aber ich bin auch stolz darauf, dass vieles in Deutschland anders ist.

Brauchen wir die Quote in der EU?
Kraft: Ich denke, daran wird kein Weg vorbeiführen.

Warum werden die Flüchtlinge, die absehbar keine Chance haben, hierzubleiben, nicht schneller abgeschoben?
Kraft: Wir haben rechtsstaatliche Verfahren, die müssen durchlaufen werden. Die Verfahren, ob ein Asylsuchender anerkannt wird, dauern noch zu lange. Im Moment haben wir beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das über die Anträge entscheidet, einen Flaschenhals, auch weil dort über 200 000 unerledigte Altfälle liegen. Der Bund hat das erkannt und stellt jetzt mehr Personal ein. Aber es dauert, bis der Antragsberg abgearbeitet ist. Dann werden die Verfahren kürzer und das entlastet vor allem die Kommunen, was dringend erforderlich ist.

Werden Sie auch schneller abschieben?
Kraft: NRW hat im vergangenen Jahr fast 2000 Asylanten zwangsweise zurückgeführt. Das waren bundesweit ein Viertel aller Abschiebungen. Aber die Zahlen der Abschiebungen sagen wenig darüber aus, wer kommt und wer geht. Der Großteil der abgelehnten Asylbewerber, insbesondere Flüchtlinge aus dem Balkan, gehen freiwillig zurück, wenn sich die Verfahren dem Ende zuneigen.

Warum?
Kraft: Weil sie sonst eine Einreisesperre in die EU erhalten und das wollen sie nicht.

Wie lassen sich die Menschen, die hierbleiben können, am besten integrieren?
Kraft: Sie müssen die Sprache schnell lernen können. Deshalb bin ich froh, dass der Bund jetzt die Sprachkurse für die, die eine gute Bleibeperspektive haben, früher öffnet. Ganz wichtig ist auch die enorme ehrenamtliche Betreuung durch die Bevölkerung vor Ort. Da kommen Menschen mit schrecklichen Erlebnissen, die oft vor Mord und Krieg geflohen sind. Sie aufzunehmen, auch mit der uns eigenen Herzlichkeit, ist ganz wichtig.

Können Flüchtlinge einen Beitrag zur Lösung der demografischen Probleme im Land leisten?
Kraft: Es kommen, das ist richtig, viele mit Kindern. Einige sind auch sehr gut ausgebildet. Aber unseren Fachkräftemangel werden wir dadurch allein nicht lösen. Da müssen wir, wie geplant, früh ansetzen und auch den Übergang von der Schule in den Beruf verbessern und dafür sorgen, dass es weniger Schulabbrecher gibt.

Thema Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Ländern: Sind Sie optimistisch, dass es bald zu einer Einigung kommt, dass die Not der Länder bald ein Ende hat?
Kraft: Die Not bezieht sich auf Länder und Kommunen. Wir verhandeln für die Kommunen mit. Es geht darum, ein gerechteres und transparenteres System zu entwickeln. Nordrhein-Westfalen ist eine starke Region in Deutschland. Wir zahlen in großem Umfang an andere. Wir waren solidarisch und bleiben es. Aber wir wollen, dass das auch deutlich wird.

Was meinen Sie damit?
Kraft: Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Wir fordern aus diesem Grund die Abschaffung des Umsatzsteuervorwegausgleichs. Der steht, was kaum bekannt ist, vor dem eigentlichen Finanzausgleich. Da zahlt NRW mit rund 2,3 Milliarden Euro den größten Beitrag aller Bundesländer ein und über den engeren Finanzausgleich fließen dann gut 800 Millionen Euro wieder zurück. Unter dem Strich ist NRW also Zahlerland. Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir in den kommenden Wochen eine Lösung finden. Allerdings ist die Interessenlage des Bundes und einzelner Länder sehr unterschiedlich.

Nordrhein-Westfalen steht relativ allein da, was die Länder angeht.
Kraft: Bundesfinanzminister Schäuble teilt unsere Position. Jede Region hat eigene Interessen. Die südlichen Länder wollen weniger einzahlen. Die östlichen Länder wollen, dass die Solidarität in möglichst gleichem Umfang erhalten bleibt, was dadurch erschwert wird, dass der Soli wegfallen soll. Aber das können die anderen Länder nicht kompensieren. Und wir in NRW wollen mehr von dem behalten, was bei uns erwirtschaftet wird.

Ist es richtig, dass einzelnen Ländern deutlich mehr Geld pro Einwohner zur Verfügung steht als NRW?
Kraft: Ja, vor der ganzen Umverteilung hat NRW beispielsweise pro Einwohner rund 1000 Euro mehr an Steuereinnahmen als Sachsen. Nach der Umverteilung sind es 500 Euro weniger pro Einwohner.

Was Folgen für das Länderranking hat...
Kraft: Ja, bei den Steuereinnahmen je Einwohner liegen wir vor dem Länderfinanzausgleich auf Platz fünf und rutschen dann auf den letzten Platz 16 ab. Das kann nicht so bleiben, das ist kein gerechtes System. Das ist eine Überkompensation.

Reicht das bisher zur Verfügung stehende Geld, um die Infrastruktur wieder in Schuss zu bringen?
Kraft: Insgesamt muss die Decke ein bisschen mehr vom Bund in Richtung Länder und Kommunen gezogen werden. Ein Schritt war das kommunale Investitionspaket des Bundes über 3,5 Milliarden Euro, bei dem wir mit 1,2 Milliarden Euro einen überproportionalen Anteil nach NRW holen können, weil es endlich mal nach Bedürftigkeit ging. Wir haben auch im Koalitionsvertrag auf Bundesebene weitere Entlastungen von fünf Milliarden Euro für die Kommunen ausgehandelt, die noch kommen.

Also reicht das?
Kraft: Nein, ich mache mir Sorgen. Fraglich ist, woher das Geld zur Erneuerung unserer Straßen und Brücken jetzt kommen soll, nachdem die Pkw-Maut auf die lange Bank geschoben worden ist. Auch hier muss massiv investiert werden. Wenn wir über die marode Leverkusener Brücke reden, reden wir über eine Bundesautobahn.

Was war für Sie die größte Enttäuschung in der ersten Hälfte der jetzigen Wahlperiode hier in NRW?
Kraft: Wir haben immer noch zu viele Langzeitarbeitslose. Was auch damit zusammenhängt, dass auf Bundesebene die Förderprogramme zurückgefahren worden sind. Wir haben in einigen Regionen sicherlich noch strukturelle Schwächen, in anderen aber praktisch Vollbeschäftigung. Insgesamt haben wir eine Menge erreicht. Wir sind vorangekommen, zum Beispiel durch Investitionen für Kinder, Familien und Bildung. Seit 2010 haben wir in diesem Bereich 140 Milliarden Euro investiert, mehr als jede andere Regierung vorher. Jeder dritte Euro des Landes geht in dieses Feld. Das sind gut eingesetzte Mittel. Das sieht auch die Wirtschaft so.

Tut das Land genug für den Ausbau der Breitbandkabel?
Kraft: Mit einer Versorgungsquote von knapp über 70 Prozent mit schnellem Internet liegen wir im Vergleich der Flächenländer vorne, aber sind dennoch gefordert. Die restlichen rund 30 Prozent wollen wir bis 2018 anschließen.

Bei den Gewerbegebieten sieht es deutlich schlechter aus...
Kraft: Ja, wir haben ungefähr 3000 Gewerbegebiete, zehn Prozent sind mit Hochleistungs-Internet versorgt. Die anderen anzuschließen, ist die dringlichste Aufgabe.

Ärgert es Sie, wenn der Bürger das Gefühl hat, die innere Sicherheit verschlechtere sich, weil er keine Polizisten mehr auf den Straßen sieht?
Kraft: Es gibt sicherlich Bürgerinnen und Bürger, bei denen die gefühlte Sicherheit nicht mit der realen übereinstimmt. Unsere Vorgängerregierung hat die Ausbildungszahlen bei der Polizei massiv nach unten gefahren. Wir haben das korrigiert. Dennoch: Manchmal ist das Empfinden ein anderes. Die Aufklärungsquoten bei den schweren Verbrechen sind gut. Auch bei den Wohnungseinbrüchen arbeitet der Innenminister gezielt an einer Verbesserung. Dazu gehört die Bekämpfung von ausländischen Einbrecherbanden. Aber er wirbt auch zu Recht dafür, dass die Bürger den Einbruchsschutz von Wohnungen und Häusern verbessern, um so Einbrüche gezielt zu erschweren.

Plant die Ministerpräsidentin eine Kabinettsumbildung?
Kraft: Mit diesem Thema habe ich mich überhaupt nicht befasst.

Wenn CDU-Landeschef Armin Laschet Minister in Ihrem Kabinett wäre, hätte er den Posten trotz Noten- und Steuerproblemen noch?
Kraft: Er hat sich da gerade selbst in keine einfache Position gebracht. Aber ich werde das im Einzelnen nicht bewerten. Es stellen sich Fragen und die müssen auch umfassend beantwortet werden. Aber richtig ist auch, dass Skandale nie nur einem schaden, sondern dem politischen System insgesamt.

Hoffen Sie darauf, dass er Ihr Gegenkandidat 2017 sein wird?
Kraft: Das entscheidet die CDU.

Ist Bonn in zehn Jahren noch Bundesstadt?
Kraft: Die Verträge gelten. Sie einseitig zu lösen, wäre kein gangbarer Weg. Ich glaube, dass Bonn vom Berlin/Bonn-Gesetz profitiert hat. Wir haben hier einen internationalen Standort par excellence ausbauen können. Das war goldrichtig. Ich bin zuversichtlich, dass Bonn sich auch weiterhin positiv entwickelt, als UN-Stadt und als Wissensregion, in der Hochschule, Forschung und Entwicklung im Zentrum stehen. Das sind die großen Themen hier in der Region.

Muss man gegen den Rutschbahneffekt Richtung Berlin etwas unternehmen?
Kraft: Es ist nicht hinnehmbar, wenn der Bund einseitige Verschiebungen vornimmt und das noch nicht mal schlüssig begründen kann, um es vorsichtig zu sagen.

Brauchen wir eine neue Abmachung?
Kraft: Wenn man einen Vertrag ändern will, müssen sich alle an einen Tisch setzen und darüber reden.

Fühlen Sie sich mitschuldig daran, dass das Festspielhaus nicht entstehen wird?
Kraft: Nein, denn wir haben von vorneherein sehr klar erklärt, dass wir uns institutionell nicht beteiligen. Da wären viele andere auch gekommen, und wir wollen bis spätestens 2020 die Schuldenbremse erreichen. Ich bedauere, dass das zugesagte Engagement aus der Privatwirtschaft zurückgezogen worden ist. Aber auch das ist klar: Am Beethovenjahr selbst werden wir uns in großem Umfang beteiligen.

Und an der Sanierung der Beethovenhalle?
Kraft: Über diese kommunalen Investitionen entscheidet die Stadt.

Zur Person

Hannelore Kraft, 1961 in Mülheim an der Ruhr geboren, ist seit 1994 Mitglied der SPD. 2000 wurde sie in den Landtag gewählt und bereits ein Jahr später Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten. 2002 bis 2005 war sie Wissenschaftsministerin. Seit 2007 ist sie SPD-Landesvorsitzende, seit 2010 Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes.

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