Interview mit Rainer Maria Kardinal Woelki "Er ist der rechte Mann zur rechten Zeit"

Bonn · Seit drei Monaten ist Rainer Maria Kardinal Woelki nun Erzbischof von Köln - und hat in dieser Zeit einige Akzente gesetzt. Vor allem das Flüchtlingsthema treibt ihn um, nicht nur kurz vor Weihnachten.

 Rainer Maria Kardinal Woelki ist ein großer Fan des 1. FC Köln.

Rainer Maria Kardinal Woelki ist ein großer Fan des 1. FC Köln.

Foto: dpa

Sie haben in Berlin stets ein überraschend großes Echo auf öffentlich vorgetragene Anstöße gehabt. Fehlt Ihnen das in Köln noch?
Rainer Maria Kardinal Woelki: Das Wichtige am öffentlichen Echo ist ja, dass Verhältnisse und Einstellungen sich durch meine Einlassungen ändern. Da, wo mir das als Erzbischof von Köln gelingt, ist das um der Sache willen gut. Das Flüchtlingsthema etwa wird breit diskutiert. Und nach meiner Kritik an der "Heiratsshow" befasst sich jetzt sogar die Landesregierung damit. Ich bin gespannt, welche meiner künftigen Einlassungen, zu welcher Resonanz führen werden.

Sie haben "schicke Designersofas in wohltemperierten Empfangshallen der Bank- und Versicherungskathedralen" kritisiert und menschenunwürdige Verhältnisse für Flüchtlinge dagegen gesetzt. Tun wir zu wenig für Flüchtlinge?
Woelki: Angesichts der riesigen Not dieser Menschen und ihres unverschuldeten Schicksals: ja, vor allem gemessen an unseren Möglichkeiten. Darum geht es mir. Kein Bankkunde soll unbequem stehen müssen. Aber wenn die Flüchtlinge auf Pritschen in Turnhallen schlafen müssen, stimmt etwas nicht bei uns. Darüber sollten wir nachdenken - und entsprechend handeln.

Neigt der Deutsche zu sehr zur Nabelschau?
Woelki: Mit solchen Pauschalaussagen bin ich eher vorsichtig. Ich kenne viele äußerst wache, engagierte Menschen mit einem weiten Horizont. Aber natürlich hat aufrichtige Selbstkritik noch niemandem geschadet, Sie darf nur nicht zum Selbstzweck werden. Ich kann daher nur raten: Kopf hoch! Und den Blick weiten, nämlich weltweit.

Wie meinen Sie das?
Woelki: In meiner Funktion als Vorsitzender der Kommission für caritative Fragen habe ich natürlich auch die diesjährige Caritas-Kampagne "Weit weg ist näher als Du denkst" aufmerksam begleitet. Hier werden Fragen aufgeworfen, nach dem Zusammenhang unseres Lebensstils mit Ausbeutung und Verelendung in der Welt. Solche Fragen müssen wir als Christen und auch uns selbst stellen.

Sie haben das Erzbischöfliche Haus umbauen lassen und eine kleinere Wohnung als Ihr Vorgänger. Haben Sie Platz schaffen wollen etwa für eine Flüchtlingsfamilie?
Woelki: In eine Wohnung ist ein Priester der syrisch-katholischen Kirche eingezogen, der - selbst mit einem Fluchthintergrund - die Flüchtlinge aus Syrien bei uns betreut. Im Priesterseminar nebenan ist eine muslimische Flüchtlingsfamilie untergekommen. Für die Nutzung anderer Räume, die dort zur Verfügung stehen, sehen wir, was möglich und sinnvoll ist.

Sie sprechen sich gegen Sterbehilfe durch Ärzte aus. Der CDU-Politiker und evangelische Theologe Peter Hintze sagt, ein Arzt müsse angesichts qualvoller Schmerzen des Patienten beim friedlichen Einschlafen helfen dürfen. Wie bewerten Sie diese Position?
Woelki: Sie setzt den Akzent falsch. Wenn ein Patient leidet, ist es Aufgabe des Arztes, ihm die Schmerzen zu nehmen, nicht das Leben. Selbst um den Preis, dass starke Medikamente in dieser Situation die Lebensspanne verkürzen könnten. Diese indirekte Form der Sterbehilfe ist ethisch-theologisch seit Pius XII. kirchlich zugelassen. Sie nimmt billigend in Kauf, dass ein Mensch in Folge der schmerzlindernden Medikation stirbt - intendiert dieses Sterben aber nicht.

Das Thema Sterben wird in der Öffentlichkeit oft tabuisiert.
Woelki: Ich bin überzeugt, dass christliche Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens Orte sein müssen, an denen Sterbende und ihre Angehörigen begleitet werden. Wir dürfen uns nicht an der weit verbreiteten Verdrängung des Todes, des Gebrechlich-Werdens und der Hilflosigkeit, die mit schweren Krankheiten einhergehen kann, beteiligen. Bei uns stirbt keiner allein, das wäre die Botschaft, die von einer christlichen Einrichtung ausgehen sollte.

Bei der Familiensynode im Herbst in Rom ging es auch um die Frage, wie die Kirche mit wiederverheirateten Geschiedenen umgeht. Wo stehen Sie in dem Konflikt?
Woelki: Ich habe darauf hingewiesen, dass es in der Kirche in spezifischen Einzelfällen schon immer eine kirchenrechtskonforme Tradition gibt, dass wiederverheiratet Geschiedene ihre Situation mit ihrem Beichtvater besprechen und dann auch unter Umständen zur Kommunion gehen können. Das sind allerdings Einzelfälle, die wegen ihres individuellen Charakters nicht als Generallösung taugen.

Haben Sie sich über Papst Franziskus schon einmal geärgert?
Woelki: Warum sollte ich? Unser Papst lebt den Glauben in einer einladenden und überzeugenden Weise. Er ist der rechte Mann zur rechten Zeit. Deshalb freue ich mich über ihn und die Zeichen, mit denen er verdeutlicht, für wen unsere Kirche da ist: für die Ausgeschlossenen.

Spüren auch Sie so etwas wie Aufbruch in der Kirche?
Woelki: Papst Franziskus mahnt wie kein zweiter auf der Welt den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Menschlichkeit an. ?In der Wurzel ungerecht? nennt er das aktuelle ökonomische System. Der Mensch ist nur noch als Konsument gefragt, und wer das nicht leisten kann, wird nicht mehr nur ausgebeutet, sondern ganz ausgeschlossen, weggeworfen. Jede Gemeinschaft in der Kirche, welche die Armen vergisst, steht in der ?Gefahr der Auflösung?, weil das religiöse Tun fruchtlos werde und in einer ?spirituellen Weltlichkeit? aufgeht. Papst Franziskus lädt uns zu einer Sorge um die Schwächsten ein: Die Kirche muss den neuen Formen von Armut Aufmerksamkeit schenken. Ein brennendes Thema sind für ihn auch die neuen Formen der Sklaverei, die unsere Gesellschaft hervorbringt. Betroffen davon sind diejenigen, die wir jeden Tag umbringen durch Arbeit in einer illegalen Fabrik, im Netz der Prostitution, in den zum Betteln missbrauchten Kindern.

Was beeindruckt Sie besonders?
Woelki: Die kraftvolle Sprache des Papstes rüttelt wach. Es geht einem in Mark und Bein wenn er in Evangelii Gaudium schreibt: „Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht.“ Und so umstritten aus den unterschiedlichen theologischen Blickwinkeln die Ergebnisse der Familiensynode auch gewesen sein mögen: Die Form der Diskussion und die Transparenz über den Diskussionsprozess hat einen Wert in sich.

Teilen Sie die Analyse des Papstes über die "15 Leiden der Kurie"? Er spricht von spirituellem Alzheimer und von der Pathologie der Macht.
Woelki: Im Grunde formuliert der Papst sehr konkret das, was grundsätzlich und auf Latein "ecclesia semper reformanda" heißt, die Kirche allgemein muss sich immer wieder reformieren. Gerade im Blick auf diese Laster, die der Papst hier "Krankheiten" nennt. In der Kurie arbeiten wie überall Menschen, und die sind mit diesen "Krankheiten" wie Eitelkeit, Arbeitswut, Machtstreben und so weiter genauso infizierbar wie Sie und ich. Das entschuldigt uns alle natürlich keineswegs. Interessant finde ich, dass der Papst diese Dinge mit einer gewissen Abgeklärtheit anspricht und als Gegenmittel dann den Humor empfiehlt.

Für Sie als Kölner wahrscheinlich die richtige Medizin.
Woelki: Humor entkrampft und lässt befreit lachen, auch über mich selbst - genau das, was wir als Christen sein sollen: entkrampft und befreit, weil Gott uns ansieht, uns reich macht, uns beschenkt, damit wir sein Entgegenkommen weitergeben können. Das zu begreifen und dann auch zu leben ist die Richtung, in der sich Kirche und wir Christen alle uns immer weiterentwickeln müssen.

Die Anzahl der Priester, aber auch der Katholiken insgesamt geht weiter zurück Wie wollen Sie die Trendumkehr schaffen?
Woelki: Ob wir diesen Trend umkehren können, wage ich zu bezweifeln. Aber mit oder ohne diesen Trend müssen wir Katholiken den Glauben so leben und bezeugen, dass er bereichernd für das eigene Leben erfahren wird.

Wie sieht Ihr Modell einer Pfarrgemeinde der Zukunft aus? Bleibt die Kirche noch im Dorf?
Woelki: Auf jeden Fall als dienstbereite Gemeinschaft von Menschen, die aus ihrer gelebten Hoffnung heraus ein einladendes Zeugnis für ihren Glauben gibt. Wir sind gerufen, dorthin zu gehen, wo Menschen unsere Hilfe brauchen und die Botschaft Jesu suchen. Auch wenn wir kleiner werden, gilt das Diktum Dietrich Bonhoeffers: Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.

Kirchen werden hierzulande leerer, die Moscheen voller. Können sich die Christen an der Religiosität von Muslimen ein Beispiel nehmen?
Woelki: Vielleicht steht uns ein wechselseitiger Lernprozess über die Bedeutung von impliziter und expliziter Religiosität bevor. Vielleicht gilt es auch, sehen zu lernen, dass leerere Kirchen nicht zwangsläufig bedeuten, dass die Menschen unchristlicher in ihrer Lebensführung werden. Wer seine Weltanschauung in aller Freiheit und mit Respekt vor anderen Weltanschauungen lebt, verdient Achtung. Nur so ist in unserer vielgestaltigen Welt ein friedliches Zusammenleben möglich. Wenn Menschen dann ihren Glauben auch explizit in Moscheen, Kirchen und Synagogen zum Ausdruck bringen, ist das ein Segen für alle.

Ist es an der Zeit, beim Thema Islam zur Differenzierung zwischen den "normalgläubigen Muslimen" und aggressiven Kräften zu mahnen?
Woelki: Aus der Geschichte des Christentums kennen wir die Ambivalenz des Religiösen nur zu gut. In allen Fällen gilt: Keine Religion oder Weltanschauung darf für sich in Anspruch nehmen, ihre Lehre mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Das Menschenrecht der Religionsfreiheit impliziert, dass jede Religion die andere respektiert.

Sie haben angekündigt, Leitungspositionen in der Kirche verstärkt mit Frauen zu besetzen. Bedeutet das auch, dass Frauen demnächst Diakoninnen werden können?
Woelki: Das ist eine gesamtkirchliche Frage, die nicht in einem einzelnen Bistum oder von einem Bischof beantwortet werden kann. Unabhängig von der Frage der Zulassung von Frauen zu geistlichen Ämtern gibt es aber viele Möglichkeiten und auch einigen Nachholbedarf für Frauen in leitenden Positionen in der Kirche. In Berlin habe ich damit sehr gute Erfahrungen gemacht und ich bin mir sicher, Köln wird hier ebensolche Erfahrungen machen.

Hat die Kirche den Missbrauchsskandal hinter sich?
Woelki: Bei diesem Thema darf man nie davon ausgehen, dass es abschließend bearbeitet ist. Wachsamkeit und Aufklärung gehören zu den Daueraufgaben - so viel sollten wir aus den Verletzungen, die sich aufgetürmt haben, gelernt haben. Wir müssen nach Kräften Prävention betreiben, Bewusstseinsbildung leisten, offen und ansprechbar für Menschen sein, die mit solchen Erfahrungen zu uns kommen, und konsequent die Verfolgung von solchen Vorfällen vorantreiben.

Hat die Ökumene für Sie in Köln einen anderen Stellenwert als noch in Berlin?
Woelki: Nein. In Berlin sind die katholischen Christen in einer Minderheit. Das ist hier im Rheinland noch anders. Zukunftsfähig ist nach meiner Ansicht aber so oder so nur ein geschwisterliches Miteinander der christlichen Konfessionen und gleichzeitig das Gespräch mit den anderen Religionen.

Zur Person

Geboren 1956 in Köln, aufgewachsen im rechtsrheinischen Stadtteil Mülheim, 1985 im Dom zum Priester geweiht, später Geheimsekretär von Joachim Kardinal Meisner, 2003 Weihbischof - bis zu seiner Wahl zum Berliner Erzbischof 2011 war Köln der Mittelpunkt des Lebens und Wirkens von Rainer Maria Woelki. Dass er im Juli nach nur drei Jahren in Berlin abberufen und zum Erzbischof seines Heimatbistums ernannt wurde, war für ihn selbst, wie er sagte, eine große Überraschung. Angenehmer Nebeneffekt sei, dass er seiner "großen Liebe", dem FC, wieder näher sei.

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