Contergan Entschuldigung für Contergan-Geschädigte

Düsseldorf · Gesundheitsministerin Barbara Steffens äußert sich kritisch zur Rolle des Landes nach dem Arzneimittelskandal. Am Ende hat sie Tränen in den Augen.

 Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen).

Die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Bündnis 90/Die Grünen).

Foto: dpa

Auf diesen Moment haben viele Opfer des folgenschwersten Arzneimittelskandals in der Bundesrepublik ein Leben lang gewartet. Darauf, dass sich die Politik auf sie einlässt. Dass man sich auch auf Regierungsebene für die vielen noch offenen Fragen rund um Contergan interessiert. Darum war der Auftritt von NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) in der Messe Düsseldorf für manche der Anwesenden mindestens wichtig, für andere sogar „historisch“.

Steffens stellte vor rund 200 Betroffenen einen Forschungsbericht zur Rolle des Landes NRW im Conterganskandal vor. Und sie bat am Ende der Veranstaltung die Opfer und ihre Familien mit Tränen in den Augen um Entschuldigung. „Das Land hat nicht schnell, effektiv und hartnäckig genug gehandelt.“ Das, so Steffens, sei „beschämend“.

Rund 2400 Contergangeschädigte leben in Deutschland, in NRW sind es etwa 800. „Und jeder von uns ist ein Unikat“, sagt Udo Herterich, Leiter des Interessenverbandes Contergangeschädigter NRW. „Unikate“ sind sie, weil ihre Lebensgeschichten und ihre Körper so unterschiedlich sind. „Manche haben vier oder einen Finger, manche haben innere Schädigungen, mache arbeiten noch, andere sind schon mit 40 in Rente gegangen“, erzählt Herterich. Er selbst hat verkürzte Beine, ein Daumen fehlt, ein Augenmuskel ist gelähmt.

Für Udo Herterich und seine Frau Claudia ist dieser Tag in der Messe Düsseldorf ein besonderer. „Dass das Land seine Rolle in dem Skandal von unabhängigen Forschern überprüfen lässt und diesen Bericht nicht in einer Schublade ablegt, sondern sich direkt den Betroffenen stellt, ist aus unserer Sicht eine Wertschätzung“, finden beide. Eine Wertschätzung nicht nur gegenüber den direkt Betroffenen, die bald im Seniorenalter sein werden, sondern auch gegenüber ihren Eltern. „Unsere Mütter und Väter wurden von Ärzten und Behörden im Stich gelassen. Man hat ihnen einreden wollen, sie selbst seien schuld an den Schäden und nicht das Medikament Contergan“, erzählt Udo Herterich.

Fast 700 Seiten stark ist der Bericht zur Haltung des Landes im Conterganskandal, geschrieben von dem jungen Historiker Niklas Lenhard-Schramm aus Münster. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist eine schallende Ohrfeige für die Behörden in den 1950-er und 1960-er Jahren. Die Studie beschreibt einen in diesem Skandal komplett überforderten Staat, eine „Gesundheitsverwaltung in Abwehrhaltung“ und eine „behäbige“ Justiz. Eine Aufklärung der Bevölkerung erfolgte nicht, heißt es. Der Contergan-Hersteller Grünenthal aus Stolberg bei Aachen durfte das gefährliche Medikament jahrelang ungehindert weiter verkaufen, obwohl es Tausende Nebenwirkungs-Meldungen gab.

Für den Bielefelder Historiker Willibald Steinmetz ist die viel zu späte Aufdeckung des Skandals zum Teil mit der damals weit verbreiteten Obrigkeitshörigkeit zu erklären. „Heute würden Ärzte, die den Verdacht haben, ein Medikament sei gefährlich, viel schneller an die Öffentlichkeit gehen. Damals wandten sie sich lieber an die Firma Grünenthal als an die, wie es hieß, Laienpresse“, erklärt der Professor, der die Entstehung der Studie zusammen mit anderen Forschern begleitet hatte. „Es bedurfte schließlich außergewöhnlicher Einzelpersonen, die dann eben doch noch die Regeln brachen“, so Steinmetz.

Die Studie stieß nicht bei allen Zuhörern auf ungeteilte Zustimmung. Andreas Meyer, Chef des Bundes Contergangeschädigter und Grünenthalopfer, sprach vom „Weichspülen der tatsächlichen Verhältnisse“. Die Wissenschaftler hätten sich nicht genügend mit dem Bezug mancher Akteure im Contergan-Skandal zur NS-Zeit beschäftigt, so die Kritiker. Auch die Rolle des früheren NRW-Justizministers Josef Neuberger (SPD), der Mitarbeiter von Grünenthal als Anwalt verteidigt hatte, hätte intensiver beleuchtet werden sollen. Schließlich rieben sich manche Zuhörer an dem Begriff „Lifestyle-Medikament“, der in der Studie auftaucht. „Das suggeriert, dass unsere Mütter Contergan genommen hätten, weil das irgendwie hip war“, ärgerte sich Andreas Meyer.

Mehr Druck auf Grünenthal wünschen sich die Betroffenen von der Landesregierung. Die „Firma“, sagen sie, solle die Opfer über die bisherigen Leistungen hinaus unterstützen. Die Not sei groß, versichert Udo Herterich: „80 Prozent von uns sind Schmerzpatienten, jeder Dritte ist in der Frühverrentung. Die Assistenz, die einige von uns brauchen, koste bis zu 12 000 Euro im Monat.“ In Deutschland wurden durch das Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der Herstellerfirma zurückgezogen wurde, etwa 5000 Menschen geschädigt.

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