Berlin Was Merkel antreibt

Die Kanzlerin spaltet das Land. Das ist eine ganz neue Erfahrung. Jetzt, wo sie sich aus der Deckung wagt, wird sie zum leichten Ziel für jene, die gern in den Rücken schießen.

 Vielleicht ist ihr politischer Stil immer nur verkannt worden: Lethargokratisch, wie Salon-Philosoph PeterSloterdijk es nennt, gibt Kanzlerin Angela Merkel sich zumindest derzeit nicht.

Vielleicht ist ihr politischer Stil immer nur verkannt worden: Lethargokratisch, wie Salon-Philosoph PeterSloterdijk es nennt, gibt Kanzlerin Angela Merkel sich zumindest derzeit nicht.

Foto: DPA

Ein hammerharter Satz: "Ein großer Teil der Mitglieder und Wähler unserer Partei fühlt sich von der gegenwärtigen Linie der CDU-geführten Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik nicht mehr vertreten." Ein Misstrauensvotum. Nicht aus Führungsgremien der Union.

Nein, das nicht. Schlimmer - vom Rückgrat der Partei. Kreisvorstände, Bürgermeister, Landtagsabgeordnete aus acht Bundesländern haben einen Brief an die Kanzlerin geschickt. Wohlgemerkt an dieselbe Angela Merkel, die manche schon als Friedensnobelpreisträgerin gesehen hatten. "Nächstenliebe ist keine Gefühlsduselei und kein Gutmenschentum, sondern eine Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind." Das sagt Heiner Geißler. Vermutlich ist er gerade nicht sehr beliebt bei den Unterzeichnern des Briefes.

Kein Zweifel, Merkel spaltet das Land. Das ist eine ganz neue Erfahrung. In den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft war im wirtschaftlich kerngesunden Deutschland bei Merkel-Freunden und -Gegnern eher so ein schläfrig-behäbiges Gefühl verbreitet, dass das Land bei ihr doch "irgendwie" in ganz guten Händen sei. Nun hat sie sich so sehr aus der Deckung gewagt wie nie in ihrer Kanzlerschaft. Das macht sie angreifbar. Ein leichtes Ziel auch für diejenigen, die gern in den Rücken schießen.

Was treibt Merkel an?

Aber ob Freund oder Gegner, in einem sind sie alle vereint: im verwunderten Grübeln darüber, was die Regierungschefin nur antreibt. Warum dieses gewaltige Risiko? Warum diese Alleingänge? Diese rigorose Abkehr von ihrem Stil des Zuwartens und Moderierens?

Vielleicht ist es ja gar keine Abkehr. Vielleicht ist ihr Stil nur verkannt worden. Auch von den ganz feinen Herren, die das Patent auf die Entschlüsselung des Zeitgeistes zu besitzen glauben. "Lethargokratisch" nennt Deutschlands Salon-Philosoph Peter Sloterdijk ihre Art, Politik zu betreiben.

Für diese sei "typisch, dass Politiker das Aussitzen von Problemen zu einer veritablen Technik entwickeln". Das übersieht nur ein Detail: Angela Merkel ist Chefin einer konservativen Partei. Linke Politiker stürmen die Macht mit der glutvollen Verheißung auf Veränderung. Sie wollen reformieren, "mehr Demokratie" wagen, verändern, gestalten, erneuern. Alles mit dem Pathos behaucht, dass alles besser, gerechter werden wird.

Konservative ticken da ganz anders. Sie glauben nicht ans Paradies auf Erden und sind schon froh, wenn der Laden irgendwie läuft. Erst wenn es stockt, wenn sich eine Störung bemerkbar macht, tritt für sie der Handlungsfall ein. Politik ist Organisation, ist das pragmatische Beiseiteräumen von Problemen.

Nicht so sexy, aber mitunter ziemlich wirkungsvoll. Dann kann es plötzlich rundgehen. Merkel hat das mehrfach durchexerziert. Bei der Einlagensicherung in der Bankenkrise zum Beispiel, bei der Griechenland-Rettung auch. So gesehen sind die Flüchtlingsströme auch nur ein Störfall. Mit Lethargie, wie Sloterdijk nahelegt, hat das nichts zu tun.

Das ganze Bild ist wichtig

Die ganze Wahrheit ist das aber längst nicht. Merkel, die Physikerin, die kühle, streng rationale Analytikerin des politischen Prozesses - das Bild benötigt Ergänzungen. Da fließt mehr Irrationales ein als sie zugeben würde. Viel mehr Emotion.

Bewunderung zum Beispiel. Neulich hat sie die Biografie Gerhard Schröders vorgestellt. Sie hätte das nicht tun müssen. Hat sie aber. Warum eigentlich? Merkel nennt ihn "einen der größten Wahlkämpfer, den Europa je gesehen hat". Sie hat seine überraschenden Volten gesehen, seine Meisterschaft in Krisenzeiten. In Krisenzeiten unbeirrt zu sein, auch wenn die Partei unruhig wird - es ist nicht fernliegend, dass Merkel gerade jetzt daran Maß nimmt.

Doch Merkels Handeln ist auch von anderen Elementen beeinflussbar: von der Macht der Bilder zum Beispiel. Als die Nachricht vom Tod Dutzender Flüchtlinge in einem Kühllaster auf einer Autobahn bei Wien durch die Medien ging, sagte Merkel, das sei "eine Mahnung, rasch zu handeln". Das war bereits am 27. August. Und dann kamen die Bilder der Flüchtlinge aus Ungarn. Ihre Verzweiflung, das Rütteln an Zäunen, die Enge, die Not.

Merkel haben die Bilder an andere erinnert: "Ich weiß noch gut, dass auch Deutsche, die auf der Flucht waren, schon mal an ungarischen Zäunen standen und gebetet haben, hindurch zu gelangen." Man mag das naheliegend oder abwegig finden, aber bestreitbar ist es wohl kaum, dass die Erfahrung der Endphase der DDR sich handlungsleitend auf die Ungarn-Entscheidung von Mitte September ausgewirkt hat.

Es mag andere Beweggründe geben. Rationalere. Zum Beispiel die unverhoffte Chance, nach den harten Verhandlungen mit Athen Deutschland in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. U

nd womöglich hat Merkel auch die historische Dimension im Blick. Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren es Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, die auf den guten Willen aufnehmender Nationen angewiesen waren. Es sind eben auch diese nicht-rationalen, wertgeleiteten Momente, die Merkels Politik derzeit erklären. Nicht jeder folgt ihr dabei. Und immer weniger in der eigenen Partei.

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