Ausreise für DDR-Bürger in Prag "Die Moral im Regime verfiel"

Bonn · Am 30. September 1989 brachte der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher den in die deutsche Botschaft nach Prag geflüchteten DDR-Bürgern die Nachricht, dass sie in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Der frühere tschechische Außenminister Karl Fürst zu Schwarzenberg über den Herbst 1989.

Daran wird am Dienstag in Prag mit einem Festakt erinnert. Mit dabei: Karl Fürst zu Schwarzenberg, langjähriger Außenminister Tschechiens. Am Montag war er noch beim Internationalen Club La Redoute in Bonn. Mit ihm sprach Bernd Eyermann.

Wie haben Sie dieses welthistorische Ereignis erlebt?
Karl Fürst zu Schwarzenberg: In Wien am Fernseher. Ich hatte in diesen Wochen immer mehr das Gefühl, dass so langsam die sowjetische Macht zusammenbricht. Ich hielt es auch für einen bewunderungswürdigen Blödsinn, dass die DDR-Führung den Zug der Ausreisewilligen durch die DDR hat fahren lassen.

Wie würden Sie den 30. September 1989 einordnen auf dem Weg zur Befreiung von den kommunistischen Regimen in den Ländern des Warschauer Pakts?
Schwarzenberg: Er steht in einer Reihe mit den Veränderungen in Polen, wo es ja bereits im Juni teilweise freie Wahlen gab, und dem Paneuropa-Picknick im Burgenland im August.

Sie waren im Oktober 1989 in Prag. Wie war die Stimmung damals dort?
Schwarzenberg: Prag war voll von Trabants, die die Flüchtlinge hinterlassen hatten. Ein Freund und ich hatten uns damals mit Dissidenten in einem Lokal verabredet, die Staatspolizei wusste das auch und begann bereits mit Verhaftungen, als wir kamen. Grotesk war, dass die Polizei mit den Verhafteten nicht mehr durchkam, weil die Straßen verstopft waren. Manche Beamten glaubten auch nicht mehr an die Zukunft des Regimes. Am Rande der Vernehmung von Ladislav Lis, einem der couragiertesten Dissidenten, fragte ein Polizist einen anderen Dissidenten: Was wird wohl der Herr Lis werden, wenn es platzt? Die Moral im Regime verfiel schon.

Sie haben in Ihrem Vortrag über den "Helsinki-Prozess" geredet. Wie wichtig war die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 für den Fall des Eisernen Vorhangs?
Schwarzenberg: Sehr wichtig. Wie hat Archimedes gesagt: Gebe mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln. Mit der Schlussakte gab es endlich einen festen Punkt, auf den sich die Menschen stützen konnten. Die Menschenrechte waren nicht mehr der nationalen Souveränität unterworfen. Ab da waren die Regime von innen angreifbar.

Sie haben sich für die Opposition in der CSSR eingesetzt - damals noch aus Österreich. Wie?
Schwarzenberg: Ich war Präsident der europaweit agierenden Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte. Wir haben Schriften der Dissidenten gesammelt, übersetzt und zur Veröffentlichung bereit gestellt, haben uns in Prag zum Beispiel oft mit Vaclav Havel getroffen. Wenn es Menschenrechtsverletzungen gab, haben wir die bei der KSZE zur Sprache gebracht.

Wäre 1989 ohne den Helsinki-Prozess möglich gewesen?
Schwarzenberg: Schwer zu sagen. Ich glaube, der Verfall des Sowjetregimes wäre passiert. Wenn es aber all die Gruppen - die Dissidenten in der Tschechoslowakei, die Solidarnosc in Polen oder die Kirchengruppen in der DDR - nicht gegeben hätte, die im Zuge von Helsinki entstanden waren, hätte es womöglich Chaos gegeben. Es hätte wohl auch nicht die Führungspersönlichkeiten wie Havel in Prag oder auch Joachim Gauck in der DDR gegeben.

Schon drei Jahre nach der Wende haben sich Tschechen und Slowaken getrennt. Wie beurteilen Sie das im Nachhinein?
Schwarzenberg: Wir sind das glücklichst geschiedene Ehepaar in Europa. Vorteil heute ist, dass die gegenseitigen Komplexe verschwunden sind. Nachteil ist, dass zwei kleine Staaten weniger Gewicht haben als ein Mittelstaat.

Sie waren Außenminister, sind derzeit Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Wie würden Sie die Beziehungen zu Deutschland bezeichnen?
Schwarzenberg: Sie waren noch nie so gut wie jetzt.

Woran machen Sie das fest? Dass über die Vertreibungen nicht mehr geredet wird? Auch nicht über die Benes-Dekrete?
Schwarzenberg: Das liegt auch daran, dass die Generation, die die Vertreibungen miterlebt hat, in meinem Alter oder älter ist. Da hat man sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Der Ukraine-Konflikt ist etwas in Vergessenheit geraten. Wie sollten man Putin aus Ihrer Sicht begegnen?
Schwarzenberg: Hart. Solche Typen geben nur nach, wenn sie aufschlagen, sonst nicht. Diese Geheimdienstler denken anders als normale Menschen. Nur wenn Putin einen sichtbaren Schaden hat, weicht er zurück. Sonst wird er seinen unterschwelligen Krieg weiter und weiter führen. Wir sollten uns nicht einbilden, dass wir dort einen Frieden haben.

Zur Person

Der 76-jährige gebürtige Prager Karl Fürst zu Schwarzenberg lebte nach der Emigration 1948 und bis 1989 zumeist in Bayern und Österreich. 1990 wurde er Büroleiter des CSFR-Staatspräsidenten Vaclav Havel, zwischen 2007 und 2013 war er insgesamt fünf Jahre tschechischer Außenminister. Er ist Tscheche und Schweizer.

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