Interview mit Norbert Blüm Der frühere Bundesarbeitsminister wirft der Justiz Arroganz vor

BONN · Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm übt scharfe Kritik am Alltag der Justiz. Blüm sagt, die dritte Gewalt im Staate habe sich selbstständig gemacht. Mit Norbert Blüm sprach Ulrich Lüke.

Der Herz-Jesu-Sozialist und Menschenfreund Norbert Blüm prügelt auf die Justiz ein. Wieso tut er das?
Norbert Blüm: Ich habe die Justiz immer für etwas ganz Besonderes, Reines, Hehres gehalten. Im hohen Alter stelle ich fest, dass das ein Kinderglaube war.

Sie sprechen von Willkür-Justiz....
Blüm: Die dritte Gewalt im Staate hat sich selbstständig gemacht, überschätzt sich selber. Ihre Unabhängigkeit versteht sie als Unantastbarkeit. Sie glaubt, sie sei nicht rechenschaftspflichtig. Wenn du das System, wenn du Richter angreifst, schlägt das System zurück.

Beispiele?
Blüm: Nennen Sie mir mal einen Richter, der wegen eines Fehlers zurückgetreten wäre. Das ist der einzige Berufsstand, dem scheinbar keine Fehler passieren. Wie hat ein Richter gesagt: Eher trifft ein Blitzschlag einen Menschen, als dass ein Richter zurücktreten muss. Es gibt Tausende von Fällen, von Menschen, die sich entwürdigt fühlen.

Eine für Sie neue Erfahrung?
Blüm: Ja, ich habe immer geglaubt, die Schlachten um Gerechtigkeit würden im Parlament geschlagen. In Sonderheit in der Sozialpolitik, wo es um die armen Leute und ihr Recht geht. Aber für die Gerechtigkeit ist viel entscheidender, wie die Gesetze angewandt werden. Richter dürfen sich nicht als arrogante Gouvernanten des Parlaments aufspielen. Ein junger Richter, der kapituliert hat, nennt das amtsanmaßende Ignoranz.

Was stört Sie in der Sache an der deutschen Justiz am meisten?
Blüm: Die Selbstgefälligkeit. Nehmen Sie den Richter im NSU-Prozess, der die Presseplätze so verteilt, dass keine türkischen Journalisten dort Platz finden. Er wird vom Bundesverfassungsgericht korrigiert und gibt klein bei. Anschließend spricht er von einem Druck, der auf ihn ausgeübt worden sei, der in der deutschen Rechtsgeschichte einmalig sei. Hat der Mann Gedächtnisschwund? Dagegen ist die Prinzessin auf der Erbse ja ein Dickhäuter.

Sie nehmen nun insbesondere die Familiengerichte ins Visier...
Blüm: Die sind am meisten verkommen. Du kannst vor dem Familiengericht lügen, dass die Balken sich biegen. Es interessiert den Richter nicht. Er ist ja nur Insolvenzverwalter. Der wickelt Unternehmen ab, Wahrheit interessiert ihn weniger.

Sie meinen das Unternehmen Ehe?
Blüm: Ja. Das ist heute eine Art Ich-AG, eine zweifache Ich-AG. Da ist nicht nur die Justiz dran schuld, sondern leider auch das Familienrecht. Das ist zu einer Art Insolvenzrecht ohne Nachhaltigkeit und Verantwortung verkommen.

Schweres Geschütz...
Blüm: Der Verfall von moralischem Denken im Recht gefährdet unsere Zivilisation. Wenn der Vorsitzende der Ethikkommission der deutschen Rechtsanwälte sagt, erlaubt sei, was nicht ausdrücklich verboten ist, dann ist das die Abdankung von Anstand und Fairness. Es gibt nämlich Sachen, die man nicht macht, auch wenn sie nicht verboten sind. Dann müsste man alles per Gesetz regeln. Mit der Freiheit ist es dann zu Ende. Dann zerfällt eine Gesellschaft.

Und wie sieht das Blümsche Rezept gegen diese Missstände aus?
Blüm: Als aufklärerischer Optimist halte ich die öffentliche Kritik für die stärkste Waffe. Es darf nicht länger als Majestätsbeleidigung gelten, Richter in Frage zu stellen. Wir brauchen eine Lüftung der dritten Gewalt: Nehmt mal die Talare hoch! Auch der Gesetzgeber kann nicht untätig bleiben.

Warum?
Blüm: Er muss zum Beispiel das Gutachterwesen neu regeln. Jeder kann heute Gutachter werden, wenn der Richter ihn bestellt. Eine Qualifikation dafür gibt es nicht. Das ist vor allem in Sorgerechtsfällen ein Ärgernis, eine Zumutung. 50 Prozent der Gutachten vor Familiengerichten in Deutschland sind nach einer Untersuchung der Fernuniversität Hagen fehlerhaft.

Das ist verbrieft?
Blüm: Ja, und das ist ein Skandal. Wenn ich mit meinem alten Auto zum Tüv muss, dann prüft ein Ingenieur. Wenn über das Schicksal eines Kindes entschieden wird, dann ist offenbar jeder sachverständig. Dem Staat ist der Rost am Auto noch wichtiger als das Kind.

Das Versagen in Familiengerichten ist für Sie der Regelfall?
Blüm: Kollektivurteile sind immer falsch. Es gibt immer noch Richter mit hoher Verantwortung und Rechtsanwälte, vor denen ich großen Respekt habe. Am Anfang meiner vierjährigen Recherchen zu dem Buch dachte ich auch, es seien Einzelfälle, aber wenn die Einzelfälle zur Mehrzahl werden, klingen bei mir die Alarmsignale. Und wenn ich je Zweifel hatte, ob ich Recht habe, dann ist das jetzt vorbei: Ich habe in den Tagen seit Erscheinen des Buches so viele Briefe und Mails erhalten wie noch nie, auch nicht als Minister. Wenn nur ein Drittel dieser Briefe stimmt, ist Land unter in Deutschland.

Sie beziehen Ihre Kritik im Wesentlichen auf die Familiengerichte.
Blüm: Nein, es geht nicht nur um die Familiengerichte. Im Zivilprozess allgemein ersetzt der Vergleich zunehmend die Entscheidung. Die Gerechtigkeit wird zum Kuhhandel. Im Strafrecht ist der Deal ein Geschäft, welches das Urteil überflüssig macht. Denken Sie an den Fall Ecclestone. Wer Geld hat, geht ungeschoren davon.

Wer viel Geld hat ...
Blüm: Der Fall ist ein Beispiel für den Verfall der Sitten in einer Gesellschaft, die ohnehin Geld für wichtiger hält als Moral. Derselbe Richter, der den bestochenen Banker für achteinhalb Jahre ins Gefängnis bringt, lässt den, der besticht, frei laufen. Der Gerissenste aller Gerissenen stellt sich unwissend, und das Gericht fällt darauf herein. Das verletzt das Gerechtigkeitsgefühl tief. Wer aber kein Geld für einen solchen Deal hat, der hat einfach Pech gehabt.

Sie haben im Parteispendenskandal das Recht hochgehalten und Helmut Kohl die Freundschaft aufgekündigt. Jetzt attackieren Sie die Justiz in Deutschland. Ist das nicht ein Widerspruch?
Blüm: Nein, das bestätigt mich eher in dem Bemühen, den Anfängen zu wehren. Man kann das Recht nicht mit einem Ehrenwort außer Kraft setzen. Wäre mir irgendein Argument eingefallen, mit dem ich Helmut Kohl, der große Verdienste hat, hätte entschuldigen können, ich hätte es so gern getan. Aber mir ist keines eingefallen.

Hat die Politik nicht Mitschuld an dem, was Sie bei den Familiengerichten beklagen?
Blüm: Ja. Der Staat hat die Ehe, eigentlich auf Nachhaltigkeit angelegt, zu einem beliebigen Bündnis auf Zeit gemacht. Es genügt ein Jahr Trennung, um die Ehe aufzulösen. Das Kündigungsrecht im Mietrecht ist höher entwickelt als im Eherecht. Das hängt mit einer kulturellen Entwicklung zusammen, in der der Mensch offenbar nur noch Vorteilssucher ist. Und Freiheit die Maximierung von Optionen: je mehr Wahlmöglichkeiten, umso freier. Die Ehe gilt danach so lange, bis etwas Besseres kommt. Und bei alldem gibt es einen großen Leidtragenden, das ist das Kind. Das spielt im Eherecht nur eine nachgeordnete Rolle.

Sie sprechen in dem Zusammenhang von Nachhaltigkeit?
Blüm: Im Umweltschutz und wo immer ich hingucke, gilt das Prinzip der Nachhaltigkeit. In der Ehe ist das aufgelöst. Das gilt als emanzipativer Fortschritt. Das stört mich sehr. Nach meiner Vorstellung ist die Ehe die letzte antikapitalistische Institution, in der nicht das Mein oder Dein, sondern das Wir gilt. Solidarität wird dann zur Selbstversorgungskategorie. Wir brauchen also eine Kulturrevolution: zurück zu verbindlichen Werten.

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