Interview "Das Leben ist nicht verhandelbar"

Sterbende Menschen in Deutschland haben nach den Worten des Vorstandsmitglieds des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV), Susanne Kränzle, auch heute noch nicht in jedem Fall Zugang zu palliativer Betreuung.

Mit ihr sprach Norbert Wallet.

Gegner der Legalisierung eines assistierten Suizids argumentieren, heute müsse kein Patient mehr am Ende seines Lebens unerträgliche Schmerzen leiden. Stimmt das?

Susanne Kränzle: Ja, das stimmt. Medizinisch und pflegerisch ist es auf jeden Fall möglich, dass Menschen am Ende ihres Lebens keine Schmerzen leiden müssen. Jedes Schmerzsymptom im Rahmen einer schweren Erkrankung kann gelindert und genommen werden. Das sage ich aus der Erfahrung von 20 Jahren Hospizarbeit - auch direkt am Sterbebett. Vorausgesetzt ist, dass man dort, wo man krank ist und stirbt, die entsprechenden medizinischen und sonstigen Gegebenheiten vorfindet, zum Beispiel einen ambulanten Hospizdienst. Das ist jetzt der gesellschaftliche Auftrag, diese Bedingungen zu schaffen. Natürlich leiden manche Menschen dennoch am Lebensende. Es kann quälende Fragen geben, Sorgen und Ängste. Aber diese Patienten brauchen nicht die Möglichkeit eines Suizids, sondern ganz einfach menschlichen Beistand. Das bietet die Hospizbewegung jedem Menschen an.

Hat denn heute schon jeder Mensch in Deutschland die Chance auf Zugang zu palliativer Betreuung?

Kränzle: Nein, so weit sind wir noch nicht auf allen Ebenen. Das ist nun der Auftrag an Gesellschaft und Politik. Wir brauchen nicht an jeder Ecke ein stationäres Hospiz zu bauen. Zwei Drittel der Menschen sterben in Krankenhäusern und Pflege-Einrichtungen. Die vor allem müssen qualifiziert und vernetzt werden. Aber auch die ambulanten Pflegedienste.

Hat man da einen Nachteil, wenn man in einer ländlichen Region lebt?

Kränzle: Nein, es kommt immer auf das konkrete Engagement und die konkrete Qualifizierung der Kräfte am Ort an. Auch im ländlichen Bereich gibt es zum Beispiel hervorragende Hausärzte und Pflegedienste, die für die Sterbenden hingebungsvoll da sind, aber auch bereit sind, wenn nötig auch professionellen Rat einzuholen.

Gibt es denn schon heute genügend qualifiziertes Personal, um eine - gesellschaftlich gewollte - Ausweitung der Palliativversorgung zu tragen?

Kränzle: Nein, da muss noch viel geschehen. Aber es gibt zumindest in zumutbarer Nähe geschulte Palliativ-Experten, die zu befragen sind. Man muss es nur tun und sich verantwortlich fühlen. Es kommt stark auf das Engagement an. Aber natürlich ist die Situation der Pflege eben so, dass viele Kräfte so maßlos überlastet sind, dass sie sich nicht auch noch um dieses Thema kümmern können. Obwohl auch sie darunter leiden, wie heute noch immer manche Menschen bei uns sterben müssen.

Taucht in Ihrer Hospiz-Praxis der Patienten-Wunsch zu sterben häufig auf?

Kränzle: Nein. Sterbende Menschen verlangen nach Zuneigung und dem Gefühl der Nähe und Geborgenheit. Der Suizidwunsch begegnet ausgesprochen selten. Ich kann ein konkretes Beispiel nennen: In unserem Hospiz hatten wir vor einigen Wochen zwei Männer, die beide relativ kurz, bevor sie zu uns gekommen waren, einen Suizidversuch unternommen hatten. Wir haben natürlich überlegt, wie wir hier im Hospiz damit umgehen müssen. Aber es hat sich gezeigt, dass der Sterbewunsch nie wieder ein Thema war. Sie konnten unsere fachliche und menschliche Zugewandtheit spüren. Sie konnten sich sicher sein, dass jemand da ist, der mit ihnen die Ängste aushält, die mit dem Sterben verbunden sind. Der Suizid-Gedanke schien wie weggeblasen. Für mich ist das ein Beweis, dass Menschen leben wollen. Manche wollen "so" nicht mehr leben. Dann muss man fragen, was dieses "so" bedeutet - oft sind es Schmerzen oder Ängste. Aber Menschen haben unter widrigsten Umständen Lebensfreude.

Haben sterbende Menschen Angst, jemandem zur Last zu fallen?

Kränzle: Ja, das gibt es. Genau deshalb habe ich Befürchtungen für den Fall, dass man eine Art institutionelle Suizid-Beihilfe einführte. Wenn es einen solchen formalisierten Ausweg gäbe, erzeugte das zwangsläufig das Gefühl, sich für das Weiterleben rechtfertigen zu müssen. Das ist eine schlimme Situation.

Und welche Erwartung haben Sie in diesen Tagen an die Gesetzgebung in Berlin?

Kränzle: Für uns als Hospiz- und Palliativverband steht klar im Vordergrund, alle Formen der gewerblichen und organisierten Beihilfe zum Suizid - und die Werbung dafür - zu verbieten. Ich bin auch vollkommen dagegen, den Ärzten eine Form des assistierten Suizids einzuräumen. Einem Menschen das Leben zu nehmen, kann nie die Lösung sein. Das Leben ist nicht verhandelbar.

Zur Person

Susanne Kränzle ist Vorstandsmitglied des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes und Leiterin des Hospizes im baden-württembergischen Esslingen. Die gelernte Kinderkrankenschwester ist seit 15 Jahren in der Hospizarbeit tätig. Sie ist Trainerin für Palliativpflege, Fachbuchautorin, Dozentin und leitete sieben Jahre lang den stationären Bereich am Hospiz Stuttgart. Zudem hat sie ein Masterstudium in Palliativpflege abgeschlossen.

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