Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen Buchhalter von Auschwitz vor Gericht

LÜNEBURG · Es ist eine Reise in das Land der Täter, zu der sich Eva Pusztai-Fahidi aus Budapest und Hedy Bohm aus Toronto aufgemacht haben. Die Frauen sind Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

Sie sind nach Deutschland gekommen, um als Nebenkläger an dem wohl letzten großen NS-Prozess teilzunehmen, der heute vor dem Landgericht Lüneburg beginnt. "Es ist ein sehr wichtiger Moment in meinem Leben, dass ich an einem Prozess teilnehmen kann, gegen einen SS-Mann, der in Auschwitz-Birkenau gedient hat", sagt Pusztai-Fahidi. "Für mich, die einst ein Sklave, ein Nichts für diese Männer war, ist es ein Geschenk, dass ich ihn als Angeklagten in einem Gericht begegnen kann", so Bohm.

Der Mann, um den es dabei geht, heißt Oskar Gröning und ist heute 93 Jahre alt. Er muss sich wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen verantworten. Die Staatsanwaltschaft Hannover wirft dem ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS vor, im Rahmen seines Dienstes in der Häftlingsgeldverwaltung die Geldscheine der in das Lager verschleppten Menschen gezählt und verbucht zu haben.

Der Angeklagte, der von Journalisten später als "Buchhalter von Auschwitz" bezeichnet wurde, soll außerdem zumindest in einem Fall das von den Ankömmlingen auf der Bahnrampe zurückgelassene Gepäck bewacht haben, so die Staatsanwaltschaft.

"Ungarn-Aktion" von Mai bis Juli 1944

Auch sei er bei den sogenannten "Selektionen" dabei gewesen. Gröning habe laut Anklage gewusst, dass die als nicht arbeitsfähig eingestuften Personen unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Durch seine Arbeit soll er das systematische Morden der Nationalsozialisten unterstützt haben.

Die Anklage beschränkt sich dabei auf den Zeitraum zwischen Mai und Juli 1944. In diese Zeit fällt die sogenannte "Ungarn-Aktion", bei der mehr als 400 000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert wurden. In weniger als acht Wochen wurden mindestens 320 000 von ihnen in den Gaskammern ermordet.

Im Falle eines Schuldspruches drohen dem ehemaligen SS-Unterscharführer bis zu drei Jahren Haft. Gröning gab in einem Interview zu, sich selbst an den Geldern der Lagerinsassen bereichert zu haben. Auch habe er die Vernichtungsaktionen der SS wie auch die Verbrennung der Leichen mit eigenen Augen beobachtet. Dennoch hat er eine persönliche Schuld stets abgestritten.

Mehr als 60 Nebenkläger

"Für die juristische Zurechnung ist wichtig, ob man sagen kann, er hat einen Beitrag zu der Vernichtungsmaschinerie geleistet - das wird ihm in der Hauptverhandlung höchstwahrscheinlich nachgewiesen werden können", sagt Cornelius Nestler, einer der Anwälte der mehr als 60 Nebenkläger in dem Verfahren. Grönings Verteidiger hingegen glaubt, dass dem Angeklagten zugutegehalten werde könne, dass er in früheren Gerichtsverfahren gegen andere SS-Männer ausgesagt habe und Holocaust-Leugner öffentlich widerlegt habe.

1977 wurde die Staatsanwaltschaft Frankfurt erstmals auf Gröning aufmerksam. Bis zu diesem Zeitpunkt führte er ein ungestörtes Leben. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Lohnbuchhalter. Die Ermittlungen wurden später eingestellt. Es bestünde kein hinreichender Tatverdacht, lautete die Begründung. Dass es in der juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen durch deutsche Gerichte zahlreiche Versäumnisse gibt, wird heute von Historikern nicht mehr bezweifelt.

[Porträt]Erst das Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk aus dem Jahr 2008 bedeutete eine Änderung in der Praxis der Rechtsprechung. Seitdem muss für eine Verurteilung eine direkte Beteiligung an den Morden nicht zwingend nachgewiesen werden.

Letzte Chance Auschwitz juristisch aufzuarbeiten

Ob es zu weiteren Verfahren kommt, ist angesichts des zumeist hohen Alters der Verdächtigen allerdings fraglich. So könnte der Prozess gegen Gröning eine der letzten Chancen sein, das unvorstellbare Verbrechen von Auschwitz juristisch aufzuarbeiten.

Das Interesse der Medien jedenfalls ist groß. 56 Pressevertreter aus aller Welt, unter anderem aus Ungarn, den USA, und Russland, sind nach Lüneburg gekommen - zur Zufriedenheit der Überlebenden.

"Der Prozess ist der wichtigste Part, die Bestrafung ist nebensächlich", sagt Bohm. Ihre Hoffnung sei, dass das Verfahren auch dazu beitrage, dass sich etwas wie Auschwitz nie weider ereignen kann. "Ich habe 49 Namen aus meiner Großfamilie, die ich aufzählen kann und die vorbeimarschieren mussten, als Gröning auf der Rampe dastand", so Pusztai-Fahidi.

"Ich bin sehr gespannt, was er mir sagen kann." Grönings Anwalt kündigte an, dass sein Mandant zur Anklage Stellung nehmen will. 27 Verhandlungstage sind angesetzt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort