Abzug aus Afghanistan Mission westlicher Kampftruppen geht zu Ende

KABUL · Der alte Mann hockt auf einem Bänkchen vor der braunen Lehmwand seines Gehöfts und dreht das Gesicht der Wintersonne entgegen. Die Apfel- und Pfirsichbäume, die seinem Clan im Sommer etwas Einkommen bescheren, scheinen mit ihren kahlen Ästen jeden Hauch von Wärme aufsaugen zu wollen.

 Das Leid der Zivilbevölkerung: Weil es weiterhin Auseinandersetzungen zwischen Taliban und afghanischen Truppen gibt, müssen Menschen aus ihrer Heimat fliehen.

Das Leid der Zivilbevölkerung: Weil es weiterhin Auseinandersetzungen zwischen Taliban und afghanischen Truppen gibt, müssen Menschen aus ihrer Heimat fliehen.

Foto: dpa

Afghanistan wartet auf den ersten Schnee des Winters. Von der ein paar hundert Meter entfernten Landstraße, die das 40 Kilometer entfernte Kabul mit Kandahar verbindet, dröhnen die Motoren der Lastwagen herüber. Viele stehen an einem der sechs Kontrollpunkte rund um die Stadt Maidan Shar.

Der 65-jährige Mohammed Daood zieht seinen Enkel Shamsullah Rahim auf den Schoß. Eine große Narbe verunstaltet die rechte Wange des Elfjährigen. Sie gleicht dem Abdruck einer großen Vogelkralle und stammt von einer Minenexplosion. "In meinem Leben gibt es nur ein kleines bisschen Sonnenschein", antwortet der alte Mann und deutet auf seinen Enkel, "der Kleine geht zur Schule. Mir war das nie vergönnt."

Der schmächtige Shamsullah Rahim muss in seinem einzigen landestypischen Shalwar Kameez von seinem Dorf Chowk Argandi ein paar Kilometer durch das Tal neben der viel befahrenen Straße laufen. Irgendwo in der Gegend soll auch ein Gesundheitszentrum stehen. Aber niemand in der Familie weiß, wo das ist. Krankheiten werden erst mal mit Hausmitteln bekämpft. Bei ernsten Sachen fahren Daoods Verwandte lieber nach Kabul zur Behandlung.

Dabei gibt es laut Weltbank im Gesundheitssektor enorme Fortschritte. Statt 496 Gesundheitszentren im Jahr 2004 existieren heute mehr als 2000 solcher Einrichtungen. Die Lebenserwartung stieg seit 2001 um 15 Jahre auf knapp 61. Der erstaunliche Sprung geht vor allem auf die Erfolge bei der Bekämpfung von Kindersterblichkeit zurück. Sie sank von 257 pro 1000 Einwohnern im Jahr 2001 auf 97 im vorigen Jahr.

Man muss den alten Daood ganz schön drängen, bis ihm etwas Erfreuliches zur Bilanz der ausländischen Truppen einfällt. Das Jammern fällt ihm leichter. "Für mich hat sich nichts geändert", sagt er. Die 80er Jahre verbrachte er als Kämpfer in den Reihen des Kriegsfürsten Abdul Rasul Sayyaf. Heute muss Daood sehen, wie er mit seinen Obstbäumen über die Runden kommt. Der Greis zieht das rechte Hosenbein hoch und zeigt sein verkrüppeltes Knie. "Als die da oben gekämpft haben, hat mich eine Kugel getroffen", sagt Daood und zeigt mit dem knöchrigen Zeigefinger Richtung Straße, "seitdem habe ich von allen die Nase voll, von den Taliban und den Mujaheddin oder wie sie alle heißen."

Wer Richtung Kandahar fährt, kommt ein paar Kilometer weiter zu Polizeikommandeur Mohammed Zarif. Er beobachtet von einem Hügel, wie sich seine Männer vorsichtig den Autos nähern, die aus dem Süden ins 45 Kilometer entfernte Kabul wollen. "Hinter dem Hügel ist Schluss für uns", sagt er, "Zivilisten können durch. Ein paar hundert Meter weiter schon prüfen Kämpfer der Talibanmilizen, ob in den Fahrzeugen Spione, Polizisten oder Ausländer sitzen." Wer verdächtig erscheint, wird ermordet - wer aussieht, als hätte er Geld, wird in der Hoffnung auf Lösegeld entführt.

12 000 bis 13 000 Soldaten einer "Ausbildungsmission" samt Schutz werden die westlichen Länder in Afghanistan zurücklassen. Die meisten kommen aus den USA, die Bundeswehr stellt rund 850 Mann. Während es in Kabul zuletzt so viele Anschläge gab, dass US-Offiziere vorzugsweise mit Hubschraubern unterwegs sind, haben sich die Afghanen mit der neuen Wirklichkeit arrangiert.

"Mein Umsatz ist um ein Drittel geschrumpft", erzählt Taheer, der Besitzer des Naseeb Restaurants im Stadtkern von Maidan Shar. Er belieferte früher den US-Stützpunkt mit Reis und anderen Nahrungsmitteln. Jetzt sind die meisten der Amerikaner weg. Trotzdem ist er nicht unzufrieden mit der Entwicklung. "Früher gab es nur 15 Geschäfte in Maidan Shar", beschreibt er die Veränderungen seit 2001, "heute haben wir 15 Märkte mit Geschäften."

Dennoch wird die Frontstadt Maidan Shar große Schwierigkeiten haben. Kilometerlange, mit Stacheldraht bewehrte Mauern ziehen sich um gigantische Stützpunkte, auf denen hier und da Fahrzeuge, aber kaum Menschen zu sehen sind. Die ausländischen Truppen sind noch nicht alle abgezogen. Aber Afghanistans Sicherheitskräfte haben bereits Mühe, den Betrieb in den Stützpunkten aufrechtzuerhalten, die mit den Milliarden an Geldern aus Washington aufgebaut wurden. Ob Maidan Shar bei einem Angriff ohne US-Truppen leichte Beute ist, muss sich in der ungewissen Zukunft zeigen. Denn sollten die Talibanmilizen jemals wieder einen Marsch auf Kabul wagen, wird das beschauliche Städtchen zu einem der ersten Schlachtfelder.

Restaurantbesitzer Taheer kennt die Risiken. Trotz seiner geschäftlichen Einbußen ist er froh, dass die ausländischen Truppen abziehen. "In den ersten Jahren waren wir froh über die Anwesenheit der US-Soldaten", beschreibt er den afghanischen Sinneswandel, "aber dann haben sie angefangen, Leute zu töten, und häufig die falschen erwischt." 85 000 Zivilisten wurden laut Zahlen der US-Hilfsorganisation USAID zwischen den Jahren 2008 und 2013 verletzt oder getötet. In diesem Jahr werden es nach Angaben der Vereinten Nationen 10 000 sein.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Susanne Ebner, London,
zum britischen Asylpakt
Zu kurz gedacht
Kommentar zum britischen Asylpakt mit RuandaZu kurz gedacht
Aus dem Ressort
Legales Massaker
Blutbad in Pakistan folgt eine Hinrichtungswelle Legales Massaker