Nach dem EU-Gipfel Genugtuung und leise Zweifel in der Türkei

Istanbul · "Visafreies Europa" - so lauteten gestern die Schlagzeilen auf den Titelseiten vieler türkischer Zeitungen. Nach dem Türkei-EU-Gipfel von Brüssel sieht die Regierung und ein Großteil der Medien ein neues Kapitel in den schwierigen Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel.

Doch es wird auch Kritik an der Haltung der EU laut, die rechtsstaatliche Mängel in der Türkei ignoriert, um sich die Kooperationsbereitschaft von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in der Flüchtlingsfrage zu sichern.

Die Aussicht, bald ohne lange und teure Visaverfahren nach Österreich, Deutschland oder Frankreich reisen zu können, bildete für die türkische Öffentlichkeit die wichtigste Nachricht des Brüsseler Treffens. Bei der Flüchtlingsfrage signalisierte Ankara gleich entschlossenes Handeln. Bei Razzien in der Provinz Canakkale an der nördlichen Ägäis nahm die paramilitärische Gendarmerie gestern rund 750 Flüchtlinge fest, die wie Zehntausende vor ihnen die Überfahrt auf die griechische Insel Lesbos wagen wollten. Die Flüchtlinge kamen aus Syrien, Afghanistan, Irak und Iran. Laut dem Deal von Brüssel wird es künftig häufiger solche Aktionen geben.

Allerdings wird die Türkei in den kommenden Monaten erst noch die Voraussetzungen schaffen müssen, um die gegenüber der EU gegebenen Zusagen umsetzen zu können. Das betrifft unter anderem die heikle Frage von Arbeitsgenehmigungen für Flüchtlinge in der Türkei. Bisher dürfen Syrer in der Türkei keinen Job annehmen, was viele Flüchtlinge nach Europa treibt - doch angesichts der ohnehin steigenden Arbeitslosigkeit bei der türkischen Bevölkerung wären Arbeitsgenehmigungen für Syrer sehr unbeliebt.

Die Denkfabrik ESI sagte voraus, die Brüsseler Vereinbarung werde die Flüchtlingszahlen nicht senken können. So greife das viel beschworene Rückübernahmeabkommen nur bei rund fünf Prozent aller Syrer, die nach Europa geflohen seien. Ohne erhebliche Nachbesserungen werde der Deal von Brüssel scheitern. Wenn die Zahl der in Europa ankommenden Menschen nicht zurückgehe, würden sich beide Seiten Vorwürfe machen und neues Misstrauen aufbauen.

Nazmir Gür, Außenpolitiker der Kurdenpartei HDP, sagte unserer Zeitung, eine wirkliche Lösung des Flüchtlingsproblems könne es nur mit einer radikalen Wende der türkischen Syrien-Politik hin zu einer auf Waffenstillstand und "Normalisierung" ausgerichteten Haltung geben. Davon ist jedoch nichts zu sehen.

Ohnehin ist mit der Einigung von Brüssel noch längst nicht alles in Butter, sagte die Politologin Ebru Turhan unserer Zeitung. So sollten sich die Türken nicht zu früh auf die Reisefreiheit freuen, sagte die Europa-Expertin, die an der Deutsch-Türkischen Universität in Istanbul und beim Istanbul Policy Center der Sabanci-Universität arbeitet. Die EU-Kommission könne die Aufhebung der Visapflicht nicht in Eigenregie durchsetzen, sagte Turhan. Insbesondere im EU-Parlament könnte es bei der Umsetzung des Versprechens Probleme geben.

Andere Beobachter monieren, die EU wolle sich mit der Offerte von drei Milliarden Euro, regelmäßigen Treffen, neuen Beitrittsgesprächen und Reiseerleichterungen lediglich der Flüchtlinge entledigen: Von einem "unmoralischen Angebot" sprach der Fernsehmoderator Irfan Degirmenci. Zudem wurden Probleme wie das Vorgehen der türkischen Regierung gegen kritische Journalisten und Medienhäuser in Brüssel nicht einmal erwähnt.

Der frühere EU-Botschafter in Ankara, Marc Pierini, sprach von "EU-Realpolitik der schlimmsten Sorte". Von sich aus will die Türkei im Bereich Pressefreiheit offenbar nichts ändern. Davutoglu stellte klar, dass er das viel kritisierte Verfahren gegen die prominenten Journalisten Can Dündar und Erdem Gül für gerechtfertigt hält. Lediglich die Untersuchungshaft für die beiden halte er für unangemessen, sagte der Premier. Seine Regierung werde aber nicht einschreiten.

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