Nach dem Schottland-Referendum Erschöpfte Schotten

EDINBURGH · Auch wenn manche Abspaltungsbefürworter noch trauern, die Bürger haben mit ihrem Referendum eine Föderalismusdebatte ausgelöst.

 Traurig und müde: Zwei Befürworterinnen der Unabhängigkeit gestern in Glasgow.

Traurig und müde: Zwei Befürworterinnen der Unabhängigkeit gestern in Glasgow.

Foto: dpa

Eine Nacht lang hielt ein ganzes Land den Atem an. Und am Morgen danach deutete auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass Schottland die wichtigste politische und gesellschaftliche Entscheidung seiner jüngsten Geschichte getroffen hat. Der Nebel lag dicht über Edinburgh, Nieselregen begleitete die Menschen zur Arbeit. Wo am Tag des Referendums noch Dutzende Kamerateams standen und Menschen mit "Yes"-Buttons und "No"-Aufklebern auf den Taschen interviewt hatten, wo Autos hupend vorbeifuhren und aus Pubs Volksfeststimmung herausdrang, herrschte nun eine erschöpfte Ruhe.

Vereinzelt freuten und trauerten zwar manche Schotten, doch die meisten wünschten sich, das Thema nun endlich abhaken zu können. Schottland bleibt Teil des Vereinigten Königreichs. 55,3 Prozent und damit mehr als zwei Millionen Menschen stimmten für die 307 Jahre alte Union. Die Wahlbeteiligung lag mit rund 85 Prozent so hoch wie noch nie in Schottland. Negativ für die Unabhängigkeitsbewegung war, dass in den "Yes"-Hochburgen weniger Menschen ihr Kreuz setzten als erwartet wurde.

"Das Volk hat gesprochen", gab sich der britische Premierminister David Cameron am Morgen als weitsichtiger Demokrat. Die Frage sei jetzt für "eine ganze Generation geklärt". Auch in der Wirtschafts- und Finanzwelt sorgte das "Nein" der Schotten für Erleichterung. Das britische Pfund legte gegenüber dem Euro deutlich zu.

Cameron war vor dem Wahlgang scharfe Kritik entgegen geschlagen, auch aus seiner eigenen Partei. Weil der Konservative die Abspaltungsbestrebungen im Norden unterschätzt hätte. Weil die "Better together"-Kampagne (Besser gemeinsam) zu negativ gewesen wäre. Weil er zu spät auf die Aufholjagd der Unabhängigkeitsbefürworter reagiert hätte. Für den Fall der Loslösung Schottlands hatte es bereits Rücktrittsforderungen gegeben. Um die Schotten zum Bleiben zu bewegen, stellte Westminster ihnen weitreichende Autonomiebefugnisse in Aussicht.

Gestern versprach Cameron denn auch, die Verhandlungen würden noch im November beginnen. Im Januar will er einen Gesetzentwurf vorlegen, der festschreibt, welche Kompetenzen verlagert werden sollen. Schottland soll das Recht bekommen, einen größeren Teil der Steuereinnahmen zu behalten und selbst zu verteilen. Dass Edinburgh in Zukunft jedoch über die Einnahmen aus den reichen Öl- und Gasvorkommen entscheiden darf, wird bezweifelt. "Ich möchte all denjenigen, die für die Abspaltung gestimmt haben, sagen: Wir hören euch", beteuerte Cameron. Doch er wird noch einige Probleme lösen müssen. Denn neben den unterschiedlichen Vorstellungen seiner Tory-Partei, der Labour-Party und den Liberaldemokraten, wie eine Kompetenzverlagerung aussehen könnte, sind es die Abgeordneten aus den eigenen konservativen Reihen, die ihre Unzufriedenheit äußern.

So fordern einige beispielsweise Schottland-ähnliche Rechte für Wales, Nordirland und England. Cameron kündigte gestern deshalb eine weitreichende Verfassungsreform an und versprach allen Teilen des Königreichs mehr Eigenständigkeit.

Derweil räumte der schottische Regierungschef Alex Salmond, Vorsitzender der Scottish National Party (SNP), bereits am frühen Morgen seine Niederlage ein, auch wenn er für viele als Sieger gilt: Er hat es geschafft, dass die Downing Street weitere Kompetenzen nach Edinburgh abgibt. "Ich akzeptiere das Urteil des Volkes, dass es zu diesem Zeitpunkt keine Unabhängigkeit geben soll", sagte der populäre Politiker, das Gesicht der Abspaltungsbewegung.

Am späten Nachmittag zog Salmond auch die politische Konsequenz aus der Wahl und kündigte seinen Rücktritt als schottischer Regierungschef sowie als Parteivorsitzender der SNP an. Auf dem nächsten Parteitag werde er nicht mehr kandidieren, sagte er.

Nur vier der 32 Wahlbezirke hatten sich mehrheitlich für einen eigenen Staat ausgesprochen, darunter die Städte Glasgow und Dundee. Salmond dankte den rund 1,6 Millionen Schotten, die für die Loslösung gestimmt hatten und appellierte an den Sportsgeist der vielen enttäuschten Separatisten: Ab heute gebe es kein Ja- und kein Nein-Lager mehr. Man werde gemeinsam als Nation nach vorn schauen.

So weit sind einige Schotten in Edinburgh noch nicht. Ein Mann lehnte gestern in der Altstadt an der Statue des schottischen Philosophen Adam Smith, in seiner Hand ein regennasses Fähnchen der Unabhängigkeitsbefürworter. "Ich bin verzweifelt", sagte er. "Das war eine historische Chance und wir haben sie verspielt." Andere wollten sich erst gar nicht mehr äußern. Alles sei gesagt.

Vor dem schottischen Parlament freuten sich dagegen vereinzelt einige Unionisten über das überraschend klare Ergebnis. "Es wäre eine Katastrophe geworden", befand eine Schottin, die die ganze Nacht die Auszählung vor dem Fernseher verfolgt hatte. Trotzdem, eine positive Sache konnte sie in den Debatten vor dem Referendum finden. "Das politische Interesse ist einfach unglaublich."

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