Angriffe gegen die Terrormiliz IS Erdogans Offensive gefährdet Annäherung

ISTANBUL · Die Reaktion der türkischen Regierung auf die Gewaltaktionen des Islamischen Staates im Grenzgebiet zu Syrien und auf neue Anschläge der PKK-Kurdenrebellen haben das Land in eine schwere Krise gestürzt. Die PKK erklärte den seit 2013 geltenden Waffenstillstand für beendet.

Türkische Luftangriffe auf den IS in Syrien und auf die PKK im Nordirak, großangelegte Festnahmewellen in der Türkei selbst sowie Einschränkungen des Internetverkehrs lassen Kritiker von einem De-facto-Ausnahmezustand sprechen. Die Aktionen der Regierung werden zumindest zum Teil von wahltaktischen Überlegungen bestimmt.

In der Türkei herrsche offener Kriegszustand, schrieb der Journalist Yavuz Baydar auf Twitter. Der regierungskritische islamische Theologe Ihsan Eliacik kommentierte, die Situation erinnere ihn an den letzten Putsch: "Luftangriffe in den Bergen, Polizeiaktionen in den Städten, Razzien und Festnahmen - der Knüppel ist der gleiche, nur die Hand, die ihn schwingt, ist eine andere." Regierungsanhänger forderten dagegen in sozialen Netzwerken die offizielle Verhängung des Kriegsrechts in Südostanatolien.

Laut Medienberichten griffen türkische Kampfjets seit Freitag in insgesamt mehr als 160 Einsätzen rund 400 Ziele des IS und der PKK an. Damit reagierte Ankara auf den mutmaßlich vom IS verübten Anschlag von Suruc, bei dem mehr als 30 Menschen starben, sowie auf Racheakte der PKK, die dem türkischen Staat eine Mitverantwortung für das Massaker zuweist und deshalb mindestens vier Polizisten und Soldaten getötet hat. Die türkische Polizei nahm am Wochenende rund 600 Menschen als mutmaßliche Extremisten fest, darunter viele Kurden. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas gegen rund tausend Demonstranten vor. Die regierungsnahe Zeitung "Takvim" meldete, die Staatsspitze sei entschlossen, den Kampf gegen Gruppen wie IS und PKK "bis zum Ende" fortzusetzen.

Kritiker vermuten, dass es Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nicht nur um die Verteidigung des Staates geht. Präsident und Premier setzen demnach alles daran, ihrer Regierungspartei AKP einen innenpolitischen Vorteil zu verschaffen. Dreh- und Angelpunkt dieser Haltung ist die Aussicht - manche sagen: die Hoffnung der AKP - auf vorgezogene Neuwahlen im November, falls die derzeitige Suche nach einer neuen Koalition erfolglos bleibt.

Die Opposition sagt Erdogan nach, er wolle einen neuen Urnengang erzwingen und die AKP nach der Wahlschlappe vom Juni zum Erfolg führen, um auf diese Weise doch noch ein Präsidialsystem einführen zu können.

Instabilität, so lautet die Überlegung der AKP, erschreckt die Wähler - und die könnten deshalb bei Neuwahlen massenweise zur AKP zurückkehren. Umgekehrt könnte neue Gewalt im Kurdengebiet der kurdischen Partei HDP schaden, die im Juni mit 13 Prozent der Stimmen überraschend stark abschnitt. Zudem ziele die AKP-Taktik darauf ab, Wähler von der rechtsnationalen Partei MHP für die Regierungspartei zurückzugewinnen, kommentierte Meinungsforscher Özer Sancar.

Diese Taktik ist nicht nur wegen der drohenden Eskalation der Gewalt sehr gefährlich, sondern für Erdogan auch politisch riskant: Einige Umfragen sagen der AKP bei einer Neuwahl eine neue Niederlage statt einem strahlenden Sieg voraus. Erdogan und Davutoglu sehen das offenbar anders. Beide Politiker fachen die Situation weiter an, statt zu deeskalieren. Die ersten Luftangriffe auf PKK-Stellungen im Nordirak seit Jahren sind das beste Beispiel dafür. Die PKK-Mordanschläge auf die Polizisten sind furchtbare Gewalttaten, doch die Antwort Ankaras mit Kampfjets war völlig überzogen und zeigte, wie sehr die Regierung auf Krawall gebürstet ist.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Das plant Putin nach der Wahl
Nach Präsidentschaftswahl Das plant Putin nach der Wahl
Zum Thema
Aus dem Ressort