Flüchtlinge und Schleuser Ein lukratives Geschäft

Zeltstädte für Asylbewerber, Proteste gegen Immigranten. Das sind Reaktionen am Ende der Flucht. An deren Beginn sind die Flüchtlinge auf Schlepper angewiesen. Die EU hat versprochen, die Schleuser-Kriminalität zu bekämpfen. Aber wie?

 Afrikanische Flüchtlinge weinen, als italienische Polizisten sie vergangenen Monat an der Grenze zu Frankreich aufgreifen.

Afrikanische Flüchtlinge weinen, als italienische Polizisten sie vergangenen Monat an der Grenze zu Frankreich aufgreifen.

Foto: dpa

Der Kriminologe Andrea Di Nicola hat jahrelang die Mechanismen und die Hintermänner des Geschäfts mit den Migranten recherchiert. Mit ihm sprach Julius Müller-Meiningen.

Wer steckt hinter den kriminellen Organisationen, die die Flüchtlinge nach Europa schleusen?
Andrea Di Nicola: Das sind knallharte Geschäftsmänner, die in einem gigantischen Netzwerk zusammenarbeiten und ihre Vertreter selbst in den abgelegensten Gegenden der Welt haben. Sie sind untereinander extrem gut vernetzt und haben einen ausgeprägten Sinn fürs Geschäft.

Muss man sich das wie eine Art Mafia vorstellen?
Di Nicola: Nein. Das sind organisierte Kriminelle, aber keine Mafiosi. Jeder arbeitet auf seinem Reiseabschnitt, ist sozusagen spezialisiert auf einen Teil des Angebots. Es handelt sich um das größte illegale Reisebüro der Welt mit verschiedenen, ausgelagerten Unternehmenszweigen.

Was für Zweige zum Beispiel?
Di Nicola: Da gibt es die Low-Cost-Überfahrten über das Mittelmeer, die organisierte Flugreise aus China, die Beschaffung falscher Pässe. Es gibt Spezialisten, die zum Beispiel ausschließlich Afghanen nach Großbritannien schleusen oder Einzeltäter wie einen Pakistani, der sich auf die Bestechung von Unternehmern in Italien spezialisierte. Die stellten gegen Bezahlung Arbeitsvisa aus.

Wer sind die Hintermänner der Organisationen?
Di Nicola: Bei unseren Recherchen habe ich zum Beispiel in Kairo einen Ägypter namens El Douly kennengelernt. Er operiert nur in Ägypten, hat eine ganze Reihe von Agenten im Süden des Landes. Dort kommen Flüchtlinge mit Hilfe anderer Netzwerke an. El Douly und seine Männer sorgen dann dafür, dass die Migranten über die Grenze nach Libyen gelangen. Dort werden sie dem nächsten Schlepper-Ring anvertraut, mit dem sie dann über das Mittelmeer kommen. Diejenigen, die die überfüllten Boote übers Mittelmeer steuern, sind kleine Fische. Da kann man Tausende verhaften und es passiert nichts. Entscheidend sind die Personen, die das Netzwerk zusammenhalten.

Wie viel Geld verdienen die Schleuser mit den Flüchtlingen?
Di Nicola: Nach Angaben der Weltorganisation für Migration machen Schleuser weltweit einen Jahresumsatz von drei bis zehn Milliarden Dollar. Sehr vorsichtig geschätzt verdienen die Schleuser allein im Mittelmeer jährlich etwa 80 Millionen Dollar.

Wie sind die Tarife auf den Flüchtlingsrouten?
Di Nicola: 1000 Dollar ist der Standardpreis für die Überfahrt von Libyen nach Italien. Ein Syrer, der über die Türkei nach Europa kommt, zahlt zwischen 6000 und 7000 Dollar. In Afrika südlich der Sahara wird in einzelnen Tranchen von 500 bis 1000 Dollar für jede Etappe, jeden illegalen Grenzübertritt gezahlt. Die gesamte Reise nach Europa kostet einen afrikanischen Flüchtling mindestens 5000 Dollar.

Was machen die Schlepper-Netzwerke mit dem Geld?
Di Nicola: Manche investieren in andere illegale Geschäfte wie Drogen oder Waffen. El Douly hat Restaurants und Geschäfte, der kurdische Schlepperboss Küçük soll 100 Wohnungen irgendwo an der türkischen Küste gebaut haben und ein türkisches Pharmaunternehmen kontrollieren. Das Geld wird reinvestiert, etwa zur Bestechung von Grenzbeamten. Was die Schlepper in Libyen angeht, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Geld auch in die Finanzierung des Terrorismus fließt.

Welche strategische Bedeutung hat das zerfallende Libyen für die Schleuser?
Di Nicola: Libyen ist ein neuralgischer Punkt. Aber stellen wir uns vor, wir könnten Libyen aus der Landkarte einfach herausschneiden und das Schlepper-Problem dort so beseitigen. Es würde nichts nutzen. Die Schleuser überlegen 24 Stunden am Tag, wie sie Europa stürmen können und sind rasend schnell. Es ist wie bei einem Fluss. Wenn man einen Damm baut, sucht sich das Wasser einen neuen Weg. Während wir uns über das Mittelmeer Gedanken machen, kommen haufenweise Menschen über den Balkan nach Europa. 100.000 Menschen im Jahr.

Bedeutet das, dass die Bekämpfung der Schleuser, wie sie derzeit aussieht, ihnen eigentlich in die Karten spielt?
Di Nicola: Ein ukrainischer Schleuser, der in Italien im Gefängnis sitzt, sagte uns: "Ihr werdet den Flüchtlingsstrom nie abschneiden können. Ich bin wie Moses, der erste Schleuser der Menschheitsgeschichte. Wenn ihr Fluchtwege abschneidet, spielt ihr nur unser Spiel. Denn wir werden neue finden. Ihr zieht die Mauern um die Festung Europa höher? Wir erhöhen die Preise." Je mehr wir uns abschirmen, desto mehr Tote wird es geben und desto mehr Flüchtlinge werden die illegale Einreise riskieren.

Was ist also zu tun?
Di Nicola: Europaweit müssten die Ermittler viel mehr zusammenarbeiten, sich mehr austauschen. Wir brauchen einheitliche, strenge Gesetze, Datenbanken. Die EU müsste sich so gut koordinieren, wie es die Schleuser tun. Wir müssen gegenüber Staaten wie der Türkei, Ägypten, Niger oder Tunesien als Gemeinschaft auftreten und die polizeiliche Zusammenarbeit ausweiten. Wir brauchen eine neue, europaweit einheitliche Flüchtlingspolitik.

Wäre es sinnvoll, dass Asylanträge schon vor der Überfahrt nach Europa gestellt werden können?
Di Nicola: Das wäre sehr wichtig. Denkbar ist so etwas auch in stabilen Ländern wie Ägypten, Tunesien oder Algerien. So würde man den Schleusern das Geschäft erschweren. Die EU muss sich auf Flüchtlingsquoten verständigen und humanitäre Korridore für Asylberechtigte einrichten.

Worin besteht aus Ihrer Sicht der Kernfehler, den Europa in der Flüchtlingspolitik begeht?
Di Nicola: Die Schlepper kooperieren und sind schnell. Die 28 Länder der EU sind langsam, misstrauen sich und sind in nationalen Egoismen verhaftet. Außerdem fehlt es an einer politischen Vision. Der Blick darf sich nicht auf die nächste Wahl richten, sondern auf die Lösung des Problems.

Zur Person

Andrea Di Nicola, 41, ist Professor für Kriminologie an der Universität Trient. Er arbeitet als Experte für die Themen Kriminalität und Menschenhandel für die UN und die Europäische Kommission. Mit Giampaolo Musumeci veröffentlichte er 2015 das Buch "Bekenntnisse eines Menschenhändlers - Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen" (Kunstmann-Verlag).

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