Friedensnobelpreis "Ein Preis für die Kinder"

BANGKOK · Satyarthi und Malala machen sich dafür stark, dass Minderjährige in Südostasien nicht als Zwangsarbeiter leben - auf ganz verschiedene Weise.

 Presserummel ist Kailash Satyarthi (l). schon länger gewohnt. Seit gestern aber ist der Aktivist gegen Kinderarbeit weltberühmt. Auch Malala (r.) , hier in England auf dem Schulweg mit ihrem Vater, erobert im Kampf gegen die Taliban die globale Bühne .

Presserummel ist Kailash Satyarthi (l). schon länger gewohnt. Seit gestern aber ist der Aktivist gegen Kinderarbeit weltberühmt. Auch Malala (r.) , hier in England auf dem Schulweg mit ihrem Vater, erobert im Kampf gegen die Taliban die globale Bühne .

Foto: dpa

Es schien unmöglich. Aber irgendwie überwand der Fahrer mit dem sperrigen Ambassador - Mitte der 90er Jahre Indiens Allzweckauto - samt der bretterharten Blattfedern und der hohen Achse die tiefen Furchen, die Ochsenkarren ein Dutzend Kilometer außerhalb der indischen Stadt Varanasi in die Feldwege gegraben hatten. Erst in Sichtweite des Ziels der beschwerlichen Tour kapitulierte der Fahrer. Es handelte sich um ein paar paar niedrige, fensterlose Gebäude. Draußen wartete der Inhaber. Im Halbdunkel des Gebäudes hockten ein paar halbwüchsige Mädchen an Webstühlen und fertigten Teppiche.

Es war die Gegend, in der Phoolan Devi, die legendenumwobene Banditenkönigin, ihr Unwesen trieb, bevor sie vor ihrer Ermordung als Parlamentsabgeordnete gewählt wurde. Es war außerdem ein Dorf voll mit den Missständen, denen der 1954 geborene Kailash Satyarthi seit Anfang der 90er Jahre den Kampf angesagt hatte. Zu Dutzenden besuchte er schummrige Gebäude, um Kindersklaven zu befreien und ihnen Schulbesuch statt gesundheitsschädigender Arbeit zu ermöglichen.

"Kailash Satyarthi stand damals einer Vereinigung von rund 100 Gruppen vor, die Kinderarbeit bekämpften", erinnerte sich am Freitag während einer Teppichmesse nach der Verleihung des Friedensnobelpreises der Deutsche Dietrich Kebschull von der Stiftung "Indo German Export Promotion" (IGEP), der Anfang der 90er Jahre mit dem Kailash Satyarthi die Organisation "Rugmark" zur Verhinderung von Kinderarbeit in der Teppichindustrie aufbaute, "er war ein Ankläger und ist es geblieben."

Den Friedensnobelpreis teilt sich der 60-jährige Familienvater aus Delhi mit einer jungen Frau, die seit dem 9. Oktober 2012 als wandelnde Anklage die Welt gegen die barbarischen Absichten der radikalislamischen Talibanmilizen aufrüttelt. Damals versuchten zwei Killer der Gruppe die gerade einmal 14-jährige Malala Yussufzai zu ermorden - ganze 100 Meter von der Schule entfernt, die das Mädchen besuchte. Ein Schuss traf sie über dem linken Auge und verletzte im Hirn das Sprach- und Bewegungszentrum für den rechten Arm. Die junge Frau überlebte, weil sie eiligst ein Spezialkrankenhaus in der britischen Stadt Birmingham gebracht wurde. Selbst der damalige Armeechef Ashfaq Pervez Kayani schaltete sich ein, um ihr Leben zu retten.

Malala, die jüngste Preisträgerin in der Geschichte des Friedensnobelpreises, hatte sich den tödlichen Zorn der fanatischen Extremisten zugezogen, weil sie öffentlich für das Recht auf Erziehung eingetreten war, dass die Milizen Frauen verweigern wollen. Mit Hilfe ihres Vaters, dem Leiter einer Schule in Malalas Heimatstadt Mingora, war sie in den Jahren zuvor heimlich und anonym als Bloggerin beim britischen Rundfunk- und Fernsehsender BBC tätig. Sie berichtete über den grauenvollen Alltag unter der Knute der Talibanmilizen, die das Tal 2007 besetzt hatten.

Die radikalen Fanatiker wurden von jenem Kommandeur mit dem Spitznamen "Mullah Radio" geführt, der richtig Qari Fazlullah heisst und in der vergangenen Woche als Chef der "Tehreek-e-Taliban Pakistan" (TTP) seine Unterstützung für die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) verkündete. Die Gruppe trägt einen wesentlichen Anteil an einer gesundheitlichen Katastrophe, die vor allem Kinder betrifft. Mit 202 Fällen von Kinderlähmung hält Pakistan gegenwärtig die einsame Spitzenposition als Land mit den meisten Poliofällen.

Die Taliban verhindern, dass Helfer alle der rund 34 Millionen pakistanischen Kinder erreichen. 60 Ärzte und Helfer wurden von den Milizen seit dem Jahr 2012 ermordet. Sie schieben zwei Gründe für ihre Bluttaten vor. Der nordamerikanische Geheimdienst CIA hatte bei seiner Suche nach Al Kaida-Gründer Osama bin Laden mit Hilfe eines pakistanischen Arztes eine Impfkampagne getürkt, um Informationen zu sammeln. Außerdem behaupten sie, mit der Polio-Impfung sollten islamische Frauen unfruchtbar gemacht werden.

Fast die Hälfte aller Mädchen in Südasien werden zwangsverheiratet, bevor sie 18 Jahre alt sind

Die bizarre Einstellung erschwert das Leben einer Altersgruppe, die es in Südasien ohnehin schwer genug hat. Kinder unter 14 Jahren stellen rund ein Drittel der Bevölkerung im 170 Millionen Einwohner zählenden Pakistan und in Indien mit seinen knapp 1,3 Millionen Einwohnern dar. Fast die Hälfte aller Mädchen in Südasien werden zwangsverheiratet, bevor sie das Alter von 18 Jahren erreicht haben. Im Jahr 2005 gab es in der Region 26 Millionen Kinder, die nicht zur Schule gehen konnten. 38 Prozent leiden an chronischer Unterernährung, zwei Millionen sterben, bevor sie fünf Jahre alt werden.

Die heute 16-jährige Malala ist nicht nur ein Beispiel für den Mut, mit dem junge Frauen sich in der konservativen pakistanischen Gesellschaft gegen die unheimliche Mischung aus Aberglauben und fehlgeleiteten religiösen Starrsinn wehren. Mädchen wie Malala träumen von der Flucht aus traditionellen Verhältnissen. Dazu brauchen sie Bildung. Malala kämpft für dieses Recht und verschreckt dabei nicht nur Talibankämpfer. Schließlich sind Frauen heutzutage von Pakistan bis nach Japan die energiegeladenen und dynamischen Triebfedern der Gesellschaft. Die Männer neigen dagegen fast im kompletten Kontinent dank althergebrachter Verhaltensmuster und Privilegien zur Bequemlichkeit.

Malala, die schon vergangenes Jahr als heimliche Favoritin auf den Friedensnobelpreis galt, profitierte bei der Auszeichnung auch von der gewitzten Werbekampagne, die ihr Vater geschickt mit der BBC vorbereitete. Das Mädchen trat sogar vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf. Pakistans Medien feierten die Preisverleihung. Doch in ihre Heimat kann sie nicht zurückkehren. Das Risiko ist zu groß.

Es mag ein weiter Weg von ihrer Heimat im Swat-Tal bis zu der in der Hitze flimmernden staubigen Ebene vor den Toren der heiligsten hinduistischen Stadt Varanasi am Ufer des Ganges sein. Kailash Satyarthi muss auch nicht die Vergeltung der Talibanmilizen fürchten. Aber ein gern gesehener Gast ist der Mann, der sich auf seiner eigenen Webseite "Sucher der Wahrheit" bezeichnet, in der Umgebung bei den Teppichherstellern von Varanasi nicht.

"Er hat sich immer als Mahner gesehen und nie mit Vorwürfen an die Adresse der Arbeitgeber gezögert", erinnert sich der Dieter Kebschull an gemeinsame Tage Anfang der 90er Jahre bei der Gründung von Rugmark. In der Organisation, deren Zertifikate und Arbeit bis heute als Vorbild für ähnliche Versuche in anderen Industrien gelten, arbeiten Teppichhersteller, Grabsteinproduzenten, Exporteure und Menschenrechtsgruppen zusammen, um Kinderarbeit zu verhindern.

Der Aufbau war eine mühselige Angelegenheit und Satyarthi, ganz der Aktivist einer Nicht-Regierungsorgansiation, zeigte dabei weniger Einsatzwillen als in seiner Rolle als Mahner und Ankläger. Termine mussten mit ihm schon damals vier bis sechs Wochen vorher abgesprochen werden. Den Arbeitgebern war er nicht ganz geheuer.

Am Freitag beschrieb Satyarthi den Friedensnobelpreis, den er sich mit Malala teilt, als "Preis für die Kinder". Mit Eigenlob spart Kailash Satyarthi nicht. Seit den 80er Jahren, so heißt es vollmundig auf seiner eigenen Webseite, gehört er weltweit zur vordersten Front der Kämpfer gegen Kinderarbeit. 80 000 Kinder, so heisst es, hat der Mann mit dem sympathischen Lächeln, während seines Aktivistenlebens befreit.

Wenn die Zahl stimmt, erscheint sie angesichts des übervölkerten Indien als Tropfen auf den heißen Stein. Aber das Wort von der Befreiung könnte nicht besser gewählt sein. Denn Kinder, die in Asien unter menschenunwürdigen Verhältnisse schuften müssen, besitzen keine andere Wahl. Sie sind halb Sklaven, halb Zwangsarbeiter. Sie müssen an Webstühlen Teppiche knüpfen, in Ziegeleien und Steinbrüchen Steine schleppen oder in dunklen Werkstätten Kleider fertigen.

Ihr Schicksal machte der frischgebackene Friedensnobelpreisträger zu seinem Leben. Das Haus, in dem er in der Hauptstadt Delhi mit Ehefrau und Kindern lebt, teilt er sich mit Kindern, die er aus dem Joch der Zwangs- und Sklavenarbeit befreit hat.

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