El Niño Die Messbojen im Pazifik funken SOS

Bonn · Meteorologen warnen vor einem verheerenden "El Niño" mit globalen Wetterkapriolen. Die Regierung in Peru hat vorsorglich schon den Ausnahmezustand ausgerufen.

El Niño: Die Messbojen im Pazifik funken SOS
Foto: EPA

Die Peruaner haben das Phänomen schon vor Jahrhunderten "Christkind" (El Niño) getauft und über Generationen zu fürchten gelernt: Wenn das Meer vor ihrer Küste sich stark erwärmt, bricht alles zusammen - die marine Nahrungskette, der Fischfang und damit die Fischmehlindustrie und das Wetter sowieso.

Dann regnet es so viel, dass die Flut Perus Feind wird. Wann und wie das gewohnte Wetter, getrieben von der Klimaanomalie "El Niño", ins Gegenteil umschlägt, glauben die Peruaner früh zu erkennen - weshalb sie schon vor Wochen den Ausnahmezustand ausgerufen haben. Dabei ist El Niño noch gar nicht da. Oder doch? Jedenfalls deuten die Experten des Nationalen Wasserbehörde (Ana) das aktuelle Treiben als Vorboten: Noch herrscht auf der Südhalbkugel der Winter. Aber wie: schneereich bei minus 20 Grad.

Was da droht, ist jedoch nicht nur in Peru gefürchtet, sondern auf dem halben Globus, und nach einem Fehlalarm im März scheint das Szenario nun ernst zu werden: Die Wissenschaftler Bill Patzert und Mike Halpert von der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) der USA sprachen vergangene Woche in Washington von einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit, dass es im Nordhalbkugel-Winter 2015/16 zu einem "der stärksten El Niños der letzten Jahrzehnte kommt".

Was genau passiert, weiß niemand, aber im Pazifik melden Messbojen extrem steigende Temperaturen: Die lagen im tropischen Pazifik an vier aufeinanderfolgenden Dreimonatsintervallen ein halbes Grad über normal. Sollte es auch ein fünftes Mal so sein, wäre aus der El-Niño-Prognose Wirklichkeit geworden.

Vorhersage: Noch stärkere Taifune, schwächere Hurrikane

Im Zentrum des Geschehens stehen die Passatwinde. Im Normalfall blasen sie die warmen Wassermassen des Pazifiks westwärts gen Asien, womit sich an der Westküste Südamerikas der kalte Humboldtstrom ausbreiten kann: Für Peru und Chile ein Segen, denn kalt bedeutet nährstoffreich und viel Plankton, von dem aus sich eine reiche Nahrungskette bis zur Robbe entwickelt.

Gleichzeitig ertränken am anderen Ende der riesigen Pazifik-Badewanne feuchtwarme Luft- und Wassermassen die Landschaften Südostasiens und Australiens. Lassen hingegen die Passatwinde nach, kann eine starke El-Niño-Saison entstehen und die äquatorialen Normalwetter auf den Kopf stellen. Dann schwappt die Warmwasserwalze wie in einer Wanne zurück, vertreibt den Fischreichtum vor Perus und Chiles Küste und den Regen in Südostasien.

"Wir rechnen mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit damit, dass El Niño in diesem Jahr stärker wird als 1997/98", warnt Hilda Carr vom Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersagen (EZMW) im englischen Reading. Schon der El Niño von 1997/98 galt als der folgenschwerste in 100 Jahren.

Die Bilanz: Massive Ernteausfälle, 33 Milliarden Dollar Schaden weltweit und 23 000 Todesfälle durch Katastrophen. Zu allem Überfluss fiel die Dürre auch noch mit der Finanzkrise in Asien zusammen. Nahrungsmittelknappheit stürzte Millionen Menschen ins Elend.

Weltweit werden aktuelle Ereignisse schon als Vorboten identifiziert: Millionen tote Krabben bedecken etwa Strände in Kalifornien, dazu viele ausgemergelte Seelöwenbabys, während in Indonesien Tropenwälder brennen. Die Krabbenflut erklären Forscher damit, dass das ungewöhnlich warme Wasser die Tiere in unbekannte Meeresregionen treibt. Die Seelöwenbabys hungern offenbar, weil Beutetiere wie Tintenfische und Sardinen fortziehen.

Die Philippinen, erst 2013 von dem gewaltigen Taifun "Haiyan" mit mehr als 7000 Toten getroffen, müssten sich nun auf noch kräftigere Taifune einstellen, warnt die nationale Wetterbehörde Pagasa. Andererseits dürfte El Niño, so NOAA-Ozeanograf Patzert, für eher laue Hurrikane auf dem Atlantik sorgen.

Von Reis über Soja bis Kakao: El Niño beflügelt die Spekulanten

Für Thailand rechnet Kanit Likhitvidhayavuth, Vize-Chef des dortigen Büros für Agrarökonomie, "mit einem Einbruch der Reisernte um 43 Prozent". Indien erwartet mindestens 15 Prozent weniger Regen im September. Für den Inselstaat Indonesien, der sich über mehr als 5000 Kilometer entlang dem Äquators ausdehnt, rechnet die Regierung mit dem Schlimmsten.

"Sie geht davon aus, dass 200 000 Hektar Felder ausdörren und ein bis zwei Millionen Tonnen weniger Reis geerntet werden", sagt Herry Purnomo vom Waldforschungszentrum (Cifor). Vielleicht sogar eine zu "optimistische" Einschätzung. In der El-Niño-Rekordsaison 1997/98 lag der Ernteausfall allein bei 3,5 Millionen Tonnen.

Eine Hiobsbotschaft ist El Niño auch für die Tropenwälder. "Die Gefahr ist groß, dass bald unkontrollierte Megabrände Millionen Hektar Naturwald auf Sumatra und Borneo vernichten, wie 1983 oder 1997/98", sagt der Cifor-Ökologe David Gaveau. Damals gingen rund fünf Millionen Hektar Wald in Flammen auf - eine Fläche größer als die Schweiz. Obwohl es verboten ist, fackeln dort jedes Jahr Bauern und Agrarkonzerne riesige Flächen ab.

Wenn die Torfmoorböden auf den Inseln Sumatra und Borneo aber - wie jetzt - besonders ausgetrocknet sind, drohen sie wochenlang und metertief zu brennen. "Präsident Joko Widodo hat angeordnet, dass kleinste Brände sofort gelöscht werden", sagt dessen Sprecher Teten Masduki. Man habe Geld für Löschflugzeuge und Chemikalien bereitgestellt, um Wolken künstlich zum Abregnen zu bringen.

Das hält Waldbrand-Spezialist Robert Field vom US-Goddard-Institut für fragwürdig: "Um es vorsichtig auszudrücken: Das ist nicht gerade eine anerkannte Brandbekämpfungsmethode. Vielmehr hätte man früh Aufklärung gegen Brandrodung gebraucht."

Doch es gibt auch Erdwinkel, in denen dürregeplagte Landwirte in El Niño einen "Retter um fünf vor zwölf" sehen: Kalifornien lechzt nach Regen - egal woher. Die Chancen auf einen feuchten Winter stünden jedoch nur bei 50 zu 50, wie der US-Klimatologe Michael Anderson schätzt.

Seit 1958 habe es sieben El-Niño-Systeme gegeben - drei nasse, drei trockene und einen durchschnittlichen. Also 50 zu 50. Fünf der zehn dünnsten Schneedecken in der Sierra Nevada habe es seit 2006 gegeben. Kalifornien benötige allein bereits das anderthalbfache der normalen Regenmenge, um aus der Dürre herauszukommen, sagt NOAA-Experte Halpert.

Andere sehen dem möglichen Intensivregen mit gemischten Gefühlen entgegen, weil die dürrebedingten Buschbrände gute Voraussetzungen für Überschwemmungen und Erdrutsche geschaffen hätten. Daniel Berlant vom staatlichen Amt für Forst und Feuerschutz sagt: "Es sind 1500 Feuer mehr als in normalen Jahren bekämpft worden." Die Erdkrume ist verhärtet, ihr Bewuchs weggebrannt. Was soll das Wasser am schnellen Abfluss hindern?

Da die El-Niño-Wetterschaukel alles andere als ein durch und durch analysiertes Forschungsobjekt ist, halten die Wissenschaftler sich mit konkreten Prognosen für einzelne Länder zurück. Nur in einer Vorhersage fühlt die NOAA sich sicher: Zwar hat die vom Menschen verursachte globale Erwärmung 2015 nichts mit El Niño zu tun, aber die von ihm erwärmten Wassermassen würden die Lufttemperatur zusätzlich steigen lassen. Ergo werde 2015 das wärmste Jahr seit dem Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen 1880.

Auch stimuliert El Niño - wenig überraschend - die international agierenden Spekulanten, die auf steigende Agrarrohstoffe wetten. "Von Wetterkapriolen profitieren" heißt es dazu im Internet. Außer Reis und Sojabohnen geraten auch Zucker, Palmöl und Kakao ins Visier des schnellen Geldes.

Fischmehl dürfte ebenfalls dazu zählen: Es ist das wirtschaftliche Rückgrat Perus. Das Land ist dank Humboldtstrom und riesigen Sardellenschwärmen der größte Fischfutterlieferant der Welt. Die Fischerzeugung in Aquakulturen hat sich in zwei Jahrzehnten weltweit mehr als vervierfacht. Kommt El Niño mit befürchteter Stärke, wird die kälteliebende Sardelle (sagt ein ehernes peruanisches Fischergesetz) erstmal verschwinden - und die wärmeliebende Sardine schwarmweise auftauchen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Athener Coup
Eine neue sozialdemokratische Kraft Athener Coup