Kritik des Wehrbeauftragten Hans-Peter Bartels "Die Decke ist dünn und viel zu kurz"

Die Truppe steht unter Druck: Sie muss mit mangelhafter Ausstattung immer neue Aufgaben bewältigen, sich gleichzeitig modernisieren, um attraktiv für Bewerber zu bleiben. Ohne finanzielle Schützenhilfe funktioniert das nicht, sagt Hans-Peter Bartels. Mit dem Wehrbeauftragten des Bundestages sprach Jasmin Fischer.

 Essenausgabe auf dem Flugdeck des Tenders Werra: Die Bundeswehr rettete an einem Tag im Juni 627 Menschen aus einem maroden Holzboot vor der libyschen Küste.

Essenausgabe auf dem Flugdeck des Tenders Werra: Die Bundeswehr rettete an einem Tag im Juni 627 Menschen aus einem maroden Holzboot vor der libyschen Küste.

Foto: Bundeswehr

Fast 5000 Beschwerden von Soldaten gab es 2014. Wo drückt der Stiefel denn am meisten?
Hans-Peter Bartels: Oft geht es um Ungerechtigkeiten bei Versetzungen, Misshelligkeiten im Dienstbetrieb oder das Hin und Her der letzten Bundeswehrreform. Bei allen Gesprächen in der Truppe ist ein wiederkehrendes Thema der Ausstattungsmangel. In der Vergangenheit wurde entschieden, dass es reicht, wenn nur 70 Prozent des strukturnotwendigen Materials bereitgehalten werden. Das sollte Ersatzteile, Wartung und Anschaffungskosten sparen. Eine zu einfache Rechnung! Jetzt ist die Decke sehr dünn und überall zu kurz. Zieht man an einer Ecke, entblößt man sofort andere Teile der Bundeswehr.

Bewegen Technikmängel die Soldaten wirklich am meisten?
Bartels: Es ist wichtig, dass den Soldaten das Gerät zur Verfügung steht, für das sie ausgebildet sind und mit dem sie üben. Das ist ihr Beruf, und er wird unattraktiv, wenn die Verwaltung des Mangels überhand nimmt. Für unseren deutschen Gefechtsverband in der schnellen Eingreiftruppe der Nato, ein verstärktes Panzergrenadierbataillon, mussten 15 000 einzelne Gegenstände aus der ganzen Bundeswehr zusammengekratzt werden, damit nur dieser eine Verband mit tausend Soldaten voll ausgestattet ist und an einer Nato-Übung in Polen teilnehmen konnte. Das kann man sich jetzt in einer Testphase noch leisten, aber nicht als Regel! Und es passt nicht zu einer schnellen Eingreiftruppe, die im Ernstfall kurzfristig verlegbar sein muss.

Wie sehr verschärft der Druck der aktuellen Krisen die Lage?
Bartels: Sehr deutlich. Zum Beispiel unser FlaRak-Geschwader, das an der türkisch-syrischen Grenze derzeit mit anderen Bündnispartnern die Raketenabwehr sicherstellt, ist am Rande seiner Belastungsfähigkeit. Zu viele Soldaten müssen zu oft ins Kontingent rotieren. Außerdem hat die kollektive Verteidigungsfähigkeit der Nato in Europa durch die Russland/Ukraine-Krise massiv an Stellenwert gewonnen. Unsere östlichen Bündnispartner wollen sich nicht eingeschüchtert oder bedroht fühlen. Sie müssen sich also auf ihre Nachbarn verlassen können. Deutschland ist das größte Land in der EU, das zweitgrößte in der Nato, und kann es sich nicht leisten, die Bundeswehr wie in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten immer weiter zurückzustutzen. Das ist kein Appell für mehr Militär - aber wir sollten die Strukturen, die wir haben, wenigstens zu hundert Prozent ausfüllen.

Ein Beispiel, bitte.
Bartels: Rechnerisch haben zwei von sechs Panzerbataillonen keine Panzer. Das sind hohle Strukturen! Inzwischen wird hier nachgesteuert, das begrüße ich.

Trotz der gestiegenen Anforderungen an die Bundeswehr ist der Verteidigungshaushalt dieses Jahr um 0,5 Prozent geschrumpft. Ärgert Sie das?
Bartels: Der Etat ist nominal nicht geschrumpft. Er ist aber in den letzten Jahren nicht voll ausgeschöpft worden - auch weil Vorgänger der jetzigen Verteidigungsministerin Richtungsentscheidungen getroffen hatten, die es schwer machten, das Geld komplett zu nutzen. Derzeit fließen 1,16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung, nächstes Jahr sollen es 1,17 Prozent sein. Das ist von den anvisierten zwei Prozent der Nato noch immer weit entfernt. Zwei Prozent sind auch nicht nötig. Eine Stabilisierung der Mittel, besser: eine leichte Erhöhung Richtung 1,3 Prozent würde mittelfristig viele Probleme, die uns plagen, beseitigen. Bei zusätzlichen Steuereinnahmen von 40 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren ist es jetzt an Ministerin von der Leyen, sich ihren Anteil zu sichern.

Viele Soldaten klagen, dass Dienst- und Familienzeiten nicht zusammenpassen, ihre Laufbahnen nicht planbar sind. Wann greift die Attraktivitätsoffensive?
Bartels: Umstrukturierungen, Kasernenschließungen, sinnlose Verlegungen - alles war immer wieder im Fluss. Dieser Umgang mit Menschen ist schon in der Vergangenheit nicht immer richtig gewesen. Jetzt muss erst einmal Ruhe in die Truppe kommen. Zusätzlich wirkt sich jetzt aus, dass nicht mehr 11 000, sondern gegenwärtig etwa 2500 Soldaten in Auslandseinsätzen sind. Der Fokus liegt jetzt wieder stärker auf Übungen im Rahmen der kollektiven Verteidigung, was den Vorteil haben kann, dass sie kürzer dauern und näher an der Heimat sind. Auch die EU-Arbeitszeitrichtlinie wird 2016 dafür sorgen, dass mit der Arbeitszeit der Soldaten weniger verschwenderisch umgegangen wird. Aber das wird noch Übergangsschmerzen mit sich bringen.

Das alles ändert aber nichts daran, dass die Bundeswehr sich am alten Modell ausrichtet: Der Mann wird versetzt, die nicht-arbeitende Frau zieht mit. Passt das noch zur Lebenswirklichkeit der Soldaten?
Bartels: Ganz und gar nicht. Männer und Frauen sind Soldaten, es wird viel gependelt, was wiederum die Zeit mit der Familie reduziert. Deshalb muss mehr Planbarkeit in die Berufswege der Soldatinnen und Soldaten. Wir brauchen längere Stehzeiten an einem Standort, Beförderungsmöglichkeiten in erreichbarer Nähe - und wo das nicht geht: wenigstens Pendlerwohnungen.

Apropos Frauen: Wann ist die Zeit Ihrer Meinung nach reif für Soldatinnen in kämpfenden Einheiten?
Bartels: Theoretisch stehen alle Laufbahnen in der Bundeswehr Frauen offen. Aber praktisch ist da durchaus noch Luft nach oben. Etwa beim Kommando Spezialkräfte sind die Vier-Mann-Teams wirklich immer Vier-Mann-Teams. Frauen müssen in der Bundeswehr überall sichtbar werden. Dann wird auch manches Rollenklischee mit der Zeit verschwinden. In Amerika trifft man schon mal eine Admiralin, die einen Trägerverband der US-Navy kommandiert. Ich habe keinen Zweifel, dass wir da noch aufholen werden.

Sie sprechen vom verschwenderischen Umgang mit der Zeit der Soldaten. Wie bewerten Sie es, dass Soldaten im Mittelmeer Flüchtlinge retten, in Hamburg und Brandenburg für sie Zelte aufstellen oder Marinesoldaten in Algerien ausbilden? Wäre eine neue Konzentration auf Kernaufgaben nötig?
Bartels: Da, wo die Bundeswehr schnell reagieren kann, ist es für den zivilen Bereich gut, dass wir sie haben. Die EU-Mission im Mittelmeer kann keine Daueraufgabe sein; und im Inland hat die Bundeswehr immer mal wieder Amtshilfe geleistet. Dass Soldaten Menschen in erkennbarer Not helfen können, macht sie stolz. Und unsere internationale Ausbildungshilfe, etwa im Libanon, hat das Ansehen der Deutschen in einer Weise gefördert, die man nicht mit Geld aufwiegen kann.

Was kann ein Wehrbeauftragter tun, um den Soldaten zu helfen?
Bartels: Ich kann Druck machen, Vorschläge machen, Problembewusstsein fördern.

Würden Sie sich im Jahr 2015 freiwillig zur Bundeswehr melden?
Bartels: Ja, aber nicht noch einmal als Truppenfernmelder wie zu meiner Wehrdienstzeit. Junge Leute, die Interesse an der Bundeswehr haben, müssen sich zutrauen, auch mit Schwierigkeiten fertig zu werden, und sie müssen wissen: Das ist mehr als ein Job, nicht in erster Linie Karriere und Abenteuer. Dass die jungen Leute heute gebraucht werden, sehen wir alle - und sie auch.

Schauen Sie sich eine Kaserne auch mal unangemeldet an?
Bartels: Noch nicht, aber bald. Ein Wehrbeauftragter hat das Recht dazu, und davon sollte er auch Gebrauch machen, überraschend natürlich!

Zur Person

Hans-Peter Bartels wurde im Mai 1961 in Düsseldorf geboren, ist verheiratet und hat eine Tochter. Den Wehrdienst leistete er von 1980 bis 1981 in Lübeck ab. Er studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Volkskunde an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und promovierte 1988. Im gleichen Jahr begann er als Redakteur bei der Kieler Rundschau. Seit 1979 ist Bartels Mitglied der SPD, seit 1998 Mitglied des Bundestages. Am 18. Dezember 2014 wurde er zum Wehrbeaufragten des Deutschen Bundestags und damit zum Anwalt der Soldaten gewählt. ga/FOTO: DPA

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