Der Papst in Strassburg Auf der Suche nach Europas Seele

STRASSBURG · Es sind 45 Minuten, die den Abgeordneten des Europäischen Parlaments im Gedächtnis bleiben werden. Zum ersten Mal seit 26 Jahren ist ein Oberhaupt der Katholischen Kirche der Einladung der Volksvertreter gefolgt.

 Parlamentspräsident Martin Schulz begrüßt Papst Franziskus in Straßburg.

Parlamentspräsident Martin Schulz begrüßt Papst Franziskus in Straßburg.

Foto: dpa

Damals sprach Johannes Paul II. über die Notwendigkeit eines geeinten, nach Osten geöffneten Europas. An diesem Dienstag redet Papst Franziskus den 751 Abgeordneten aus 28 Mitgliedstaaten eindringlich ins Gewissen, ergreift Partei für Alte, Kranke, arbeitslose Jugendliche und Flüchtlinge. Schonungslos offenbart er die Probleme Europas: "Einer ausgedehnteren, einflussreichen Union scheint sich das Bild eines etwas gealterten und erdrückten Europas zuzugesellen." Seine Rede ist keine apostolische - sie ist diplomatisch und stellt konkrete Forderungen an die Union.

"Ein Europa, das nicht mehr fähig ist, sich der göttlichen Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät, allmählich seine Seele zu verlieren", warnt das Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken. Die EU müsse sich wieder auf die Würde des Menschen besinnen. Im Zuge der Globalisierung riskiere der Mensch zu "einem bloßen Räderwerk in einem Mechanismus zu werden". Die "Wegwerfkultur" und den "hemmungslosen Konsumismus" verurteilt er scharf. Klatschten die Abgeordneten zu Anfang noch aus Höflichkeit, so spenden sie dem Pontifex an dieser Stelle echten Beifall.

Gleichzeitig stellt sich der Papst hinter die sechs Millionen arbeitslosen Jugendlichen in Europa. Besonders sie hätten unter der Wirtschaftskrise zu leiden, "deren Auswirkungen dramatisch sind." Statt auf das Potenzial, das sie in sich tragen, einzugehen, versteife sich die Union darauf Regeln aufzustellen. Damit schienen die "großen Ideale, die Europa inspiriert haben, ihre Anziehungskraft verloren zu haben - zugunsten von bürokratischen Verwaltungsapparaten der EU-Institutionen."

Unverhohlen spielt der Chef des Vatikanstaats damit auf die Auswirkungen des harschen Sparkurses an, den die Troika vor allem den südeuropäischen Ländern auferlegt hatte, um aus den roten Zahlen zu kommen. Der Heilige Vater sieht die Ursache dafür in der "Flexibilität des Marktes" und betonte die "Notwendigkeit von Stabilität und Sicherheit der Arbeitsperspektiven."

Der Beifall, der nun ertönt, kommt von allen Seiten: von den Abgeordneten, der Kommission, die durch Präsident Jean-Claude Juncker und seiner rechten Hand Frans Timmermans vertreten ist. Aber auch von Seiten des italienischen Premiers Matteo Renzi, der als Ratsvorsitzender die Mitgliedsstaaten vertritt. Für ihn müssen Franziskus? Worte wie Balsam auf der Seele sein, als der das "Migrationsproblem" aufgreift, das es "gemeinsam zu bewältigen" gelte. Eine der ersten Reisen, die Papst Franziskus unternahm, führte ihn nach Lampedusa. "Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird", pocht er. Wer die Reise überlebt, muss in Italien in völlig überfüllten Lagern Unterschlupf suchen, die Behörden sind überfordert. Grund dafür ist die Dublin-Richtlinie, die vorsieht, dass dasjenige Land die Flüchtlinge aufnehmen muss, über das diese in die EU gekommen sind. "Partikularistische Lösungen" und "das Fehlen gegenseitiger Unterstützung" führten lediglich dazu, Sklaverei-ähnliche Arbeitsverhältnisse und "soziale Spannungen" zu erzeugen, ermahnt Franziskus.

Als der Pontifex seine Rede beendet, erlebt das Straßburger Europaparlament einen seltenen Moment der Einigkeit: Nahezu alle Volksvertreter erheben sich von ihren Sitzen, um dem Papst minutenlangen Beifall zu spenden. Der wirkt von der Ehrbekundung fast überrascht.

"Sie haben vielen von uns aus dem Herzen gesprochen", wandte sich Parlamentspräsident Martin Schulz an das Kirchenoberhaupt. "Sie sind eine Person, die Orientierung gibt - in Zeiten der Orientierungslosigkeit."

Im Gehen dreht sich der Papst noch einmal um, hebt die Hand zum Gruß - einen Moment lang scheint es, als wolle er die Abgeordneten segnen. Aus Respekt vor den unterschiedlichen Religionen der Anwesenden verzichtet er auf diese Geste. Als das Kirchenoberhaupt Straßburg nach nur knapp vier Stunden wieder in Richtung Vatikan verlässt, hat er mehr als nur Worte hinterlassen. Sondern eine echte Botschaft.

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