Interview mit Zivilschutz-Chef Christoph Unger „Es wird auf jeden Fall ungemütlich“

Bonn · Erste Hilfe, Sirenentöne, Verhalten in Krisensituationen – das Wissen, wie man sich im Notfall hilft, schwindet. Viele Bürger wiegen sich in einem trügerischen Sicherheitsgefühl, sagt Christoph Unger, Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Jasmin Fischer und Helge Matthiesen sprachen mit ihm.

Ist Terror derzeit die größte Bedrohung?

Auf welche Reaktionen stoßen Sie, wenn Sie diese unangenehmen Botschaften teilen?

Unger: Bei den Rettungskräften ist die Sensibilität natürlich da. In Fachkreisen sieht man die Probleme – und die Defizite.

Wo liegen die Defizite?

Unger: Zum Beispiel beim Thema schnelle Evakuierung in einer dynamischen Situation. Bezüglich der Betreuung und Versorgung vieler Menschen – wie sie etwa beim kerntechnischen Unfall in Fuku-shima notwendig war – haben wir unsere Konsequenzen gezogen und müssen weiter daran arbeiten. Dass wir Defizite bei der Betreuung haben, war auch eine Erkenntnis der Flüchtlingskrise. Kapazitäten sind in den letzten Jahren abgebaut worden, die jetzt wieder aufgebaut werden müssen.

Woher kommen die neuen Bedrohungen?

Unger: Fangen wir beim Thema Cyber-Angriffe an: Es gab vergangene Woche Angriffe auf die Telekom, im Frühjahr auf NRW-Krankenhäuser, zuvor einen Angriff auf den Bundestag, und Hacker, vermutlich aus Russland, waren in der Lage, Teile des ukrainischen Stromnetzes auszuschalten. Das Thema ist eine Riesenbaustelle. Wir haben Terror mit neuartigen Entwicklungen – Bonn hat zwei Mal in den letzten Jahren Glück gehabt und ist Bahnanschlägen entkommen. Wir spüren auch die Folgen des Klimawandels, etwa durch Starkregen wie kürzlich in Wachtberg und Mehlem. Der vierte Bereich, der uns besonders fordert, ist das Thema Nato-Bündnisfall: Im Bereich der Verteidigung müssen wir uns erstmals seit 25 Jahren wieder ganz neu aufstellen.

Ist durch die lange Zeit des Friedens in Deutschland das Gespür für große Gefahrenlagen verloren gegangen?

Unger: Beim Thema Cyber-Angriffen ist jeder Einzelne – auch Behörden, Unternehmen – einfach verwundbarer geworden. Die Abhängigkeit von IT und dem Lebenselixier Strom ist enorm gewachsen. Trotz der großen technischen Entwicklungen in dem Bereich ist die Sicherheit allerdings vernachlässigt worden. Gleichzeitig wiegen viele Bürger sich in einer gefühlten Sicherheit, einer Sorglosigkeit. Die neuen Herausforderungen treffen auf eine Gesellschaft, die nicht mehr widerstandsfähig ist. Daran müssen wir arbeiten. Wir brauchen eine Kultur, in der das Sprechen über oder das Auseinandersetzen mit Risiken dazu gehört. Die Briten etwa gehen damit ganz anders um: Da üben Sicherheitskräfte mit Schutzanzügen besondere Gefährdungslagen in der U-Bahn. Das war zumindest in der Vergangenheit bei uns schwer denkbar.

Reicht es, wenn das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe das Thema allein anspricht?

Unger: Wir brauchen eine breitere Diskussion der Themen. Das erfordert noch stärkeren politischen Rückhalt.

Wo setzen Sie also an?

Unger: Wir machen unter anderem Kindern und Jugendlichen Informationsangebote und versuchen, an die Schulen zu gehen. Wir haben Unterrichtsangebote, Internetspiele und Materialien für Lehrer entwickelt. Für große Unternehmen – etwa die Telekom – bieten wir an, Stabsübungen durchzuführen. Wir arbeiten eng mit kritischen Infrastruktureinrichtungen wie Strombetreibern und Wasserversorgern zusammen.

Die Grundlagen des Zivilschutzes stammen noch aus den Zeiten des Kalten Krieges. Werden die Regeln an neue Lagen angepasst?

Unger: Mit dem neuen Weißbuch der Bundeswehr vom Juli und der neuen Konzeption zur Zivilverteidigung vom August sind politische Entscheidungen getroffen worden, um die Grundlagen des Bevölkerungsschutzes zu erneuern. Daran arbeiten wir zurzeit. So stellt auch der Landwirtschaftsminister derzeit Regelungen aus dem Kalten Krieg auf den Prüfstand – etwa die Bevorratung von Hunderttausenden Tonnen Getreide, Hülsenfrüchten und Speiseöl. Erneuert werden soll auch das Konzept zur Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen in Bedrohungsszenarien.

Könnte Bonn Ausweichdienstsitz für Ministerien und Verwaltung sein, wenn Berlin Ziel eines Terrorangriffs wird?

Unger: Es ist zumindest vorstellbar. Die Entscheidungen darüber haben letztlich die einzelnen Ressorts zu treffen.

Wie schwer ist die Anpassung von Regeln aus dem Kalten Krieg an ein Zeitalter des Terrors?

Unger: Es geht nicht nur allein um die Frage, inwieweit wir uns auf die Terroranschläge noch besser vorbereiten können, sondern um die Frage, wie wir die Bündnisfähigkeit wiederherstellen können. Mich treibt das Fehlen von Know-how und Fähigkeiten um. Wir haben uns mit der Thematik 30 Jahre nicht befasst. Bund, Länder und Kommunen haben in der Zwischenzeit Personal abgebaut – und damit auch Kenntnisse und Fähigkeiten. Die Umsetzung all dieser Dinge, die wir vorhaben, hängt aber von den Ländern und Kommunen ab. Die Bündnispartner müssen außerdem laut Nato-Vorgabe innerhalb von zwei Tagen in der Lage sein, Truppen aus Deutschland, durch Deutschland zu verlegen. Das ist ja nicht nur eine militärische Herausforderung. Die Kräfte müssen versorgt und begleitet werden, es braucht zivile Transportmittel, zum Beispiel Güterwaggons, die die Deutsche Bahn aber gar nicht mehr hat, und vieles, vieles mehr. Bis 1989 war all das im Detail durchgeplant. Die Bundeswehr übt, doch auf ziviler Seite können wir das noch nicht. Wir arbeiten intensiv daran. Es ist der Anfang eines langen Prozesses.

Ist die vermehrte Reaktivierung von Sirenen eine Lösung?

Unger: Zusammen mit der Nato und der Bundeswehr überwachen wir rund um die Uhr den Luftraum. Für den derzeit unwahrscheinlichen Fall eines Angriffs, auf den wir vorbereitet sein müssen, bleiben uns wenige Minuten, die Bevölkerung zu warnen. Im Kalten Krieg gab es dazu rund 80 000 Sirenen und 500 Mitarbeiter in zehn Warnämtern, die enorme Kosten verschlungen haben. Heute weiß kaum noch jemand, was die jeweiligen Sirenentöne bedeuten würden. Wir würden über Radio und Fernsehen warnen, aber nachts nutzt niemand diese Medien, oder über unsere App Nina, die Menschen ohne Smartphone aber auch nichts nutzt. Es gibt keinen Königsweg der Warnung, deshalb arbeiten wir mit Nachdruck unter Nutzung moderner Technologien an der Fortentwicklung der Warnung.

Gerade bei dem Hochwasser in Mehlem gab es Klagen, dass nicht früh genug gewarnt wurde. Gibt es Optimierungsbedarf?

Unger: Der Deutsche Wetterdienst arbeitet daran, seine Warnungen schneller und präziser aussenden zu können. Einzelne Gewitterzellen kann man aber nur begrenzt vorhersagen. Eine solche Unwetterwarnung muss dann aber von regionalen Gefahrenabwehrbehörden umgesetzt werden, weil der Wetterdienst natürlich nicht weiß, welche Folgen das Unwetter vor Ort auf dem Boden hat.

Die Regierung empfiehlt, sich einen Zehn-Tages-Vorrat an Lebensmitteln zuzulegen. Machen Sie das?

Unger: Selbstverständlich. Wir empfehlen als Optimum gar einen 14-Tages-Vorrat. Natürlich wissen wir, dass nicht jeder die Möglichkeit hat, etwa in beengten Wohnungen. Die Botschaft aber ist: Denkt mal nach, was ihr an Vorsorge treffen könnt – in puncto Wasser, Essen und Kommunikation!

Ihr Horrorszenario ist ...

Unger: ... ein Stromausfall über mehrere Tage. Die Auswirkungen wären dramatisch.

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