Interview mit Eveline Lemke „Die Partei war tief zerrissen“

Bonn · Die frühere rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerin Eveline Lemke spricht im GA-Interview über die Grünen und ihren Wechsel von der Politik in die Wissenschaft.

 „Verlieren tut weh, aber an so einem Wahlabend bewahrt man Contenance.“ Eveline Lemke am Tag der Niederlage im März 2016 mit ihrem Grünen-Ko-Spitzenkandidaten Daniel Köbler.

„Verlieren tut weh, aber an so einem Wahlabend bewahrt man Contenance.“ Eveline Lemke am Tag der Niederlage im März 2016 mit ihrem Grünen-Ko-Spitzenkandidaten Daniel Köbler.

Foto: picture alliance / dpa

Haben Sie sich Ihren Frust über die Niederlage der Grünen von der Seele geschrieben?

Eveline Lemke: Es war eine Fleißarbeit, aber auch Eigentherapie. Zudem ist es eine Dokumentation, was die Grünen in den vergangenen zehn Jahren für Rheinland-Pfalz geleistet haben. Das Buch ist auch ein sprachliches Zeitdokument und hilft Politikeinsteigern, einen Überblick zu bekommen.

Was ist denn falsch gelaufen im Wahlkampf?

Lemke: Wir waren nicht in der Lage, den Scheinwerfer auf die für uns wesentlichen Themen zu rücken, die spekulative Kommunikation der AfD hat gegriffen. Wir wurden zwischen den großen Parteien zerrieben. Wir hätten als Orientierungspartei agieren können, wenn wir konkrete Antworten zur Flüchtlingsdebatte hätten geben können. Diese waren aber vor allem bundes- und europapolitische Fragen, keine Landesthemen. Dazu muss dann auch eine Gesamtpartei aufgestellt sein. Das waren wir nicht ausreichend.

Welche Fehler haben die Grünen denn gemacht?

Lemke: Wir haben eigentlich auf unsere Kernthemen wie Energiewende und Klimaschutz gesetzt, mit denen wir erkennbar waren. Aber in Zeiten einer hitzigen Flüchtlingsdebatte gaben wir Menschen nicht das Gefühl, wir seien diejenigen, die Probleme lösen und Schutz bieten. 2011 konnten wir nach Fukushima durch unser klares Umweltprofil eine eindeutige glaubwürdige Orientierung geben. Diesmal nicht.

Warum nicht?

Lemke: Wir haben als Grüne nicht definiert, welche Bedingungen wir an Einwanderung stellen wollen, wie zum Beispiel die Kanadier mit ihrem Punktemodell. Für eine Menschenrechtspartei ist das aber ein Dollpunkt, weil Kategorisieren von Menschen nicht ethisch vereinbar ist. Streit wäre programmiert gewesen.

Hat das auch mit der Führungsschwäche in der Partei zu tun?

Lemke: Nein, eher mit einer tiefen Zerrissenheit der Partei. Wir erinnern uns alle an den Streit nach dem Kosovo-Krieg über die Grundsatzfrage von Kriegseinsätzen der Bundeswehr oder unsere Vorschläge zur Steuerdebatte im Wahlkampf 2013, mit denen wir auch Unterstützung verloren haben. Es gibt jetzt schon eine Tendenz bei den Grünen rundzuschleifen, anstatt kantig zu diskutieren, was auch eine Folge des Regierungshandelns ist.

Aber Sie haben doch auch die landespolitischen Themen nicht vorangebracht.

Lemke: Wir drangen damit medial nicht durch, und unser strategischer Fehler war, dass wir keine Schlusskampagne gemacht haben. Daneben erklärte ich einerseits in Berlin, wie Rheinland-Pfalz die Flüchtlingswelle managt, andererseits waren wir nicht in der Lage, konkrete Vorschläge zur Einwanderungsdebatte zu setzen.

Was hat denn die Niederlage mit Ihnen gemacht?

Lemke: Verlieren tut weh, ist ja klar, aber Tränen will doch keiner sehen. An so einem Wahlabend bewahrt man professionell Contenance.

Und später?

Lemke: Weil ich einen ganz normalen Freundeskreis und eine funktionierende Familie habe, die mich immer wieder erden, habe ich emotional schnell Abstand gewinnen können. Das war wichtig, denn so einen kleinen Blues hat man ja. Geholfen hat mir auch, dass ich in der Fraktion weiter eingebunden war, als bildungspolitische Sprecherin. Für mich war aber klar: Irgendwas tut sich schon auf.

Sie hätten sich um ein Bundestagsmandat bemühen können. Warum nicht?

Lemke: Ich wollte nicht etwas versuchen, was zum Scheitern verurteilt ist. Ich muss mich nicht selber klatschen. Dass mich Leute von der Basis überhaupt gefragt haben, ob ich mein Landtagsmandat antreten wolle, war für mich ein Zeichen, wie sehr man durch einen Verlust von zehn Prozentpunkten an Rückhalt verlieren kann.

Fällt Ihnen der Abschied aus der Landespolitik denn schwer?

Lemke: Das beantworte ich mit den Worten meines Mannes, er sagte: „Ich bin erstaunt, dass du so schnell loslassen kannst.“

Warum haben Sie den Schluss gezogen, die Politik zu verlassen?

Lemke: Das Schreiben des Buches war für mich auch ein Prozess der Findung. Mit der Zusage für die Präsidentschaft der Karlshochschule bündele ich jetzt die langen Linien meines Lebens.

Wie meinen Sie das?

Lemke: Es sind die Themen der Wirtschaft und des Interkulturellen, der Friedenskultur, denn schon als 16-Jährige hat mich ein Auslandsjahr in den USA tief geprägt. Das Postfaktische, der neue Protektionismus passiert in der EU wie den USA. Demokratie gerät in Gefahr. Also frage ich mich, wie ich beitragen kann, dass Bürger mündig und politisch sind, um dem etwas entgegen zu setzen.

Wer kann denn darauf Antworten geben?

Lemke: Wir brauchen einen neuen Diskurs von Politik, Medien und Wissenschaft. Alle drei haben ja im postfaktischen Zeitalter, wo es nur um das Bedienen von Gefühlen geht, viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Eine Business-Hochschule wie die Karlshochschule als International University ist dann so etwas wie eine Denkwerkstatt für eine offene Gesellschaft.

Um welche Fragen soll es gehen?

Lemke: Wie kann Leben und Wirtschaft inmitten der großen Problemlagen unserer Zeit anders gestaltet werden? Wie bleiben wir eine offene freie Gesellschaft? Letztendlich: Wie bauen wir an einer gerechten Welt, die Wirtschaft global denkt und friedlich bleibt?

Werden Sie bei den Grünen aktiv bleiben?

Lemke: Ja klar. Ich bin eine politische Person, ich werde das weiter bleiben. Es gibt im Wissenschaftsbereich die Entwicklung, dass sich die Hochschulen ins Unpolitische zurückziehen. Ich will den Gegenbeweis antreten und mich nicht aus der Politik zurückziehen, sondern fordere von der Gesellschaft: Werdet politischer! Ein Richtungskampf um die Frage, wie diese Gesellschaft sein soll, nämlich einerseits freiheitlich und offen, wie wir Grüne es wollen, oder abgeschottet und beschränkt, wie die AfD es will, ist entbrannt. Mit so einem Richtungskampf begann auch der Aufstieg der Nazis. Wer ein neuerliches Drittes Reich verhindern will, der muss Demagogen und Vereinfachern den demokratischen politischen Kampf ansagen.

Ein hehrer Anspruch.

Lemke: Sicher. Aber ich zeige, philosophisch betrachtet, damit auch, wie man einen politischen Tod stirbt, ohne unpolitisch zu werden. Auf diese Weise kann ich meine grünen Freundinnen und Freunde inhaltlich bereichern und gleichzeitig Menschen ermuntern, sich politisch einzubringen.

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