Interview mit Dorothee Wilms Die frühere Ministerin wird 90 Jahre alt

Bonn · In diesen Herbsttagen wird vielfach an die friedliche Revolution in der DDR erinnert. Ministerin für innerdeutsche Beziehungen war damals Dorothee Wilms. Sie wird an diesem Freitag 90 Jahre alt. Mit ihr sprach Bernd Eyermann.

 Stationen des politischen Lebens von Dorothee Wilms: Auf ein Glas mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu ihrem 60. Geburtstag, als Ministerin für innerdeutsche Beziehungen an der früheren Grenze und als Bildungsministerin bei der Vorstellung des ersten Kabinetts Kohl im Oktober 1982.

Stationen des politischen Lebens von Dorothee Wilms: Auf ein Glas mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu ihrem 60. Geburtstag, als Ministerin für innerdeutsche Beziehungen an der früheren Grenze und als Bildungsministerin bei der Vorstellung des ersten Kabinetts Kohl im Oktober 1982.

Foto: KAS/Jürgen Pätrow/DPA

Woran erinnern Sie sich besonders gern, wenn Sie an 1989 denken?

Dorothee Wilms: Der Abend des 19. Dezember mit der Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche war für mich der emotionalste Moment der Zeit nach dem Mauerfall.

Warum?

Wilms: Die Menge war im positiven Sinne begeistert von dem Gedanken an die Einheit Deutschlands. Wir wussten ja alle nicht, ob die Menschen friedlich bleiben würden, ob sie nationalistisch ausflippen und „falsche“ Lieder wie etwa die erste Strophe des Deutschland-Liedes anstimmen würden. Aber Gott sei dank ist alles ruhig verlaufen. Für mich war an dem Abend klar: Jetzt kommt es zur Wiedervereinigung. Die Leute wollen das.

Das Ministeramt war Ihnen nicht in die Wiege gelegt. Wie sind Sie in die Politik gekommen?

Wilms: Ich bin in einem politischen Elternhaus groß geworden. Mein Vater war seit 1924 Bürgermeister in Grevenbroich. Politik war am Mittagstisch immer ein Thema. Im Studium der Volkswirtschaft und der Soziologie Anfang der 50er Jahre in Köln war ich Schülerin von Professor Alfred Müller-Armack, dem geistigen Vater der Sozialen Marktwirtschaft. So wurde Politik in der Theorie zunächst mein Thema.

Auch im Industrie-Institut in Köln, dem Vorläufer des heutigen Instituts der deutschen Wirtschaft?

Wilms: Ich war die erste Referentin und sollte mich mit der beruflichen Mädchenbildung befassen. Damals wurde in der Wirtschaft darüber nachgedacht, dass man Mädchen in sogenannten Männerberufen ausbilden könnte. Ich habe viel geforscht und bei Großbetrieben wie Bayer, Höchst, Bosch oder Daimler Vorträge gehalten. Ich sage gern, das war eine echte Emanzipationsphase.

Freuen Sie sich darüber, dass wir heute eine so hohe Beschäftigungsquote von jungen qualifizierten Frauen haben?

Wilms: Sehr sogar. Ich bilde mir ein, dass ich neben vielen Gewerkschafterinnen mit den Anstoß gegeben habe, dass sich Wirtschaft und Betriebe mit dem Thema Ausbildung von Mädchen befassen.

Der damalige CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf hat Sie 1974 als stellvertretende Bundesgeschäftsführerin ins Bonner Adenauerhaus geholt. Wie war es für Sie in der praktischen Politik?

Wilms: Wir waren damals voller Euphorie, weil Helmut Kohl als junger neuer Vorsitzender unheimlich viele Impulse in die Partei gab. Der Wahlkampf 1976 war sehr emotional, fast alle CDU-Leute sind mit Parteiabzeichen rumgelaufen, wir hatten CDU-Aufkleber an den Autos, die Veranstaltungen waren voll. Es gab eine große Begeisterung für Politik.

Wie beurteilen Sie heute die Politik der CDU?

Wilms: Ich bin nach wie vor eine feste Anhängerin der CDU, aber ich muss auch sagen: Wenn eine Partei lange in der Regierung ist, dann erlöschen oft die Begeisterung und die Energie. Ich meine auch, dass Frau Merkel als CDU-Vorsitzende durchaus sehr zurückhaltend agiert hat. Ich hoffe sehr, dass die neue Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer mehr Impulse in die Partei gibt. Vielleicht kriegen wir ja jetzt wieder mehr Schwung.

Sie waren damals eine der wenigen Frauen in der Spitzenpolitik. Das hat sich heute geändert. Haben die Frauen es heute einfacher in der Politik?

Wilms: Das glaube ich nicht. Wie zu meinen Zeiten gibt es zum Beispiel immer noch nur eine Parlamentarische Geschäftsführerin in der Unionsfraktion. Es gibt zwar mehr Ministerinnen, aber die Strippen ziehen oft noch die Männer. Meine Erfahrung ist, Frauen sind viel stärker sach- und problemlösungsorientiert und tun sich mit der „Show“ schwerer. Aber richtig ist auch: Unsere heutige junge Frauengeneration empfindet es als viel selbstverständlicher, dass Frauen diese Positionen wahrnehmen. Zu meiner Zeit hieß es oft: Was, Sie sind in der Politik? Die Aufgabe der Frau ist es doch, zu Hause zu wirken.

Helmut Kohl machte Sie 1982 zur Bildungsministerin. Konnten Sie die Dinge aus der Theorie auch in die Praxis bringen?

Wilms: Sie können sich vorstellen, dass ich schnell im Ministerium gefragt habe: Was machen wir hier in beruflicher Mädchenbildung? Ein anderes Hauptthema war „Frauen in der Wissenschaft“. Wir haben das Hochschulrahmengesetz 1984 nicht nur so geändert, dass zwar die Mitbestimmung erhalten blieb, aber die Position des Rektors oder Hochschulpräsidenten doch wieder gestärkt wurde, sondern auch die gesetzliche Grundlage dafür gelegt, dass Frauen einfacher in Leitungspositionen kommen konnten.

Wo fehlt es heute in der Bildungspolitik?

Wilms: Mich wundert, dass es sehr viele Einser-Abiturienten gibt. So viele hohe intellektuelle Begabungen? Bildung sollte nicht den Qualitätsanspruch verlieren. Was mir zu kurz kommt, sind die praktischen Begabungen. Ich bedaure sehr, dass die berufliche Ausbildung im dualen System vom Bund nicht so propagiert worden ist, wie es hätte sein sollen, weil wir damit auch viele Begabungen am Rand liegen gelassen haben. Da hätte auch die CDU mehr machen können.

1987 ging es für Sie dann ins innerdeutsche Ministerium.

Wilms: Total überraschend.

Kohl hatte der FDP das Bildungsministerium versprochen.

Wilms: Ich habe schlucken müssen und kurz überlegt: Machst Du das? Kannst Du das? Willst Du das? Aber ich wusste, wenn ich dem Kanzler absagen würde, dann stünde ich politisch draußen vor der Tür.

Sie haben das Amt angenommen.

Wilms: Es gab zwei große Aufträge von Kohl: Zum einen die Weiterführung des sogenannten Gefangenenfreikaufs. Das lief seit Jahren ohne Publizität. Für einen politischen Gefangenen haben wir zuletzt 95.000 Mark bezahlt und für Familienzusammenführung pro Person 45.000 Mark.

Das hört sich so technokratisch an. Aber es ging ja immer um menschliche Schicksale.

Wilms: Ja sicher, das war „Menschenhandel“, Menschen gegen Geld, im Grunde wenig moralisch. Aber das Leben ist, wie es ist. Wir haben Menschen damit die Freiheit wiedergegeben und das war es wert. Die DDR hat den Gefangenen erklärt, sie würden aus ökonomischen Gründen in die Bundesrepublik entlassen.

Waren Sie als Ministerin selbst in der DDR?

Wilms: Sehr häufig, mit Fahrer und Referent gleichsam „privat“. Nach Besuchen in Altenheimen, Krankenhäusern und Kultureinrichtungen in vielen Teilen der DDR wusste ich, wie marode das Land war. Ich habe mir keine Illusionen gemacht.

Und der andere Auftrag Kohls?

Wilms: Über die Notwendigkeit der Wiedervereinigung zu reden – vor allem mit Schülern und Studenten, aber ihnen auch die Möglichkeit zu bieten, an die innerdeutsche Grenze oder nach Berlin zu fahren. Der Gedanke, wir Deutsche gehören zusammen, sollte aktiv vertreten werden. Das habe ich sehr gern gemacht. Mit dem gleichen Anliegen, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen zu betonen, bin ich zu Universitäten nach London, Paris oder auch in die USA gefahren. Wenn ich den jungen Menschen erzählt habe, dass wir Deutschen staatlich gar nicht voll souverän sind und die Westmächte eine Verantwortung für Deutschland haben, haben die nur gestaunt.

Haben Sie an die Wiedervereinigung geglaubt?

Wilms: Gehofft schon, aber kein Mensch hat doch damals geahnt, dass sich die Welt so schnell verändern würde. Mir war aber immer klar, dass die beiden Teile Deutschlands nicht auf eigenem Weg zueinander finden könnten, sondern dass eine Wiedervereinigung in Freiheit nur im europäischen Kontext möglich sein würde. Und so ist es ja auch gekommen.

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