Kommentar zum Freiheitsgefühl der Deutschen Wut und Wahrheit

Meinung | Bonn · Nur noch 62 Prozent der Deutschen glauben, dass sie ihre politische Meinung in diesem Land frei sagen können. Nichts zeigt deutlicher, wie groß die Entfremdung geworden ist und wieviel Potenzial die AfD hat.

 Wenn das Vertrauen in die Politik sinkt haben Populisten (wie hier in Dresden) Zulauf.

Wenn das Vertrauen in die Politik sinkt haben Populisten (wie hier in Dresden) Zulauf.

Foto: picture alliance / dpa

Der Befund ist erschreckend: Nur noch 62 Prozent der Deutschen glauben, dass sie ihre politische Meinung in diesem Land frei sagen können – das ist der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Political correctness, Shitstorms, Konformismus, Massen- und Mediendruck – was auch immer als Grund dafür angegeben und ausgemacht werden mag, nichts zeigt deutlicher als diese Zahl, wie groß die Entfremdung geworden ist und wieviel Potenzial die AfD hat. Politik und Medien stehen immer häufiger im Ruf, dem Bürger etwas vorzusetzen, was er nicht nachvollziehen kann und was er nicht will.

Vermutlich ist es sogar derselbe Grund, der dazu führt, dass dieses Unverständnis – das sich zu Unmut, ja zu Wut gesteigert hat – so stark gewachsen ist: Es fehlt die Erklärung, warum Politik so handelt, wie sie handelt – auch in Medien wird mittlerweile zu oft der kurzfristige Erfolg gesucht, wird der schnellen, flüchtigen Information der Vorrang vor der guten Hintergrundinformation gegeben. Und es gibt tatsächlich so etwas wie einen Herdentrieb – der Fall des Bundespräsidenten Christian Wulff in seiner doppelten Bedeutung ist da noch in selbstkritischer Erinnerung.

Als Angela Merkel vor drei Jahren wiedergewählt wurde, war das eine Vertrauenserklärung in ihre Person bei weitgehender Unkenntnis dessen, was auf die Bürger inhaltlich zukommen würde. Aus „Lass Merkel mal machen“ wurde in der Flüchtlingskrise ganz schnell „Was macht die denn da?“

Und gerade weil diese Krise quasi über Nacht über Europa hereinbrach, hätte die Kanzlerin versuchen müssen, ihre Politik zu erklären. Erst jetzt hat sie damit wirklich begonnen. Aber alle, nicht nur Angela Merkel hätten es besser wissen können. Zu Wochenbeginn hat der frühere Bundespräsident Horst Köhler eindrucksvoll darauf hingewiesen. Die Zehntausenden Flüchtlinge standen in der Tat über Nacht am Belgrader Bahnhof, aber dass es eine Flüchtlingsbewegung gigantischen Ausmaßes aus afrikanischen und arabischen Ländern geben würde, ja geben musste, war lange bekannt.

Die Politik hat nicht danach gehandelt, sondern die kurzfristigen Herausforderungen bearbeitet. Die Eurokrise – als sie in Griechenland manifest wurde. Die Sicherheitskrise – als in Paris die Bomben explodierten. Die Flüchtlingskrise – als die Menschen zu Tausenden schon hier waren. Und viel zu wenige in den Medien haben diese Bringschuld der Politik angemahnt. Da ist es kein Wunder, dass Bürger sich nicht mehr vertreten fühlen. Bürger, denen zum Beispiel vorgeschrieben wird, wie dick ihre Haustür zu sein hat, und die gleichzeitig verstehen sollen, warum die Grenzen ihres Staates nicht mehr ausreichend geschützt werden.

Merkel hat die Wende in der Sache längst vollzogen. Aber das wird nicht reichen. Soll die AfD nicht zum Dauerzustand werden, müssen alle etablierten Parteien sich neu öffnen: Nicht nur für die Sorgen der Bürger – seien sie berechtigt oder nicht – sondern vor allem für die Zukunftsfragen, die langfristig die entscheidenden sind. Was passiert, wenn das nicht geschieht, sieht man gerade an der Tragödie in Aleppo.

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