Interview mit Hans-Dietrich Genscher "Wir brauchen einen neuen Anfang"

18 Jahre stand Hans-Dietrich Genscher an der Spitze des Auswärtigen Amtes, hat sein Lebensziel der Wiedervereinigung hartnäckig verfolgt - und seine Kräfte dabei oft überdehnt. Woher er diese Willenskraft nimmt, über 1989 als Zündfunken der Geschichte und ein zusammengewachsenes Land spricht er in einem sehr persönlichen Interview mit Jasmin Fischer.

Herr Genscher, Ihr legendärer Halbsatz "Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, dass heute Ihre Ausreise..." in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 ist Legende. Sie kündigten Tausenden Flüchtlingen die Freiheit an. Wenig später fiel die Mauer. Wussten Sie, als Sie um 18.59 Uhr auf den Balkon traten, dass sich Historisches ankündigt?
Hans-Dietrich Genscher: Es war zumindest klar, dass es im Gebälk des DDR-Systems mächtig knarzte. 20 Tage zuvor hatten die Ungarn ihre Grenzen geöffnet. Die Stimmung im Osten war aufgereizt, vorrevolutionär. Mir war bewusst, dass die Situation der 4000 Flüchtlinge, die nun in den Westen wollten, nicht nur eine humanitäre Bedeutung hatte, sondern auch eine sehr politische.

... 4000 Menschen, die ihre Verwandten, ihre Heimat und Besitz zurückgelassen hatten für eine ungewisse Zukunft. Wie war die Atmosphäre?
Genscher: Es war dunkel, ein Kameralicht leuchtete mich an mit der Folge, dass ich niemanden erkennen konnte und in ein großes Geräusch hineinsprach. Ich stand unter Strom, war angespannt - ich musste das Vertrauen der Flüchtlinge gewinnen, wollte die Hardliner der DDR-Regierung so kurz vor dem Ziel nicht provozieren. Also gab ich mir Mühe, nüchtern und sachlich zu klingen, dass das Ganze nicht nach Triumph aussah. Aber schon als ich anhob und "Liebe deutsche Landsleute" sagte, brach Jubel aus. Für die vor mir Stehenden war das wie eine Umarmung. Dann musste ich ihnen mitteilen, dass ihre Ausreise per Zug nicht direkt, sondern durch DDR-Gebiet erfolgte. Die Stimmung sank von himmelhochjauchzend in den Keller. Die Menschen hatten eine unendliche Angst. Da sagte ich ihnen: Ich übernehme die persönliche Bürgschaft, dass Ihnen nichts passiert. Das war ein großes Wort, aber ich war mir sicher. Zwei Stunden später rollte der erste Zug.

Geht Ihnen die Erinnerung an den Moment auch heute noch nahe?
Genscher: Ja, auf jeden Fall. Das geht unter die Haut. Es war unglaublich bewegend. Die Flüchtlinge haben ihr eigenes Schicksal in die Hand genommen und damit Geschichte geschrieben und große Dinge bewirkt.

Der erste Zug mit Flüchtlingen rollte dann via Dresden, Chemnitz und Plauen gen Westen. Im Osten sprang der revolutionäre Funke da erst so richtig über. Wie kam es, dass dem SED-Politbüro die Tragweite dieser Aktion nicht bewusst war?
Genscher: Was am Ende die Entscheidung ausgemacht hat, weiß ich nicht, aber sie zeigt die völlige Realitätsferne der DDR-Regierung. Das war ja so, als würde jemand mit einer brennenden Fackel durch die Scheune laufen und sich wundern, dass das Stroh Feuer fängt. Diese Züge in den Westen, so viel war uns klar, würden die Menschen im Osten aufwühlen - und so kam es dann ja auch. Dabei hatten wir dem SED-Politbüro direktere Transportwege angeboten ... .

Sie waren von der Wende weniger überrascht als andere. Selbst Kanzler Helmut Kohl rechnete mit der Wiedervereinigung erst Jahre nach dem Mauerfall. Woher kam Ihre Vorahnung?
Genscher: Während der Teilung bin ich jeden 4. Advent mit meiner Frau in meine Heimatstadt Halle gefahren. 1987 erlebte ich es dort zum ersten Mal, dass ein uniformierter Soldat der Nationalen Volksarmee am Gottesdienst teilnahm. Das war völlig neu und bemerkenswert! Ein Jahr später bat ich meinen russischen Amtskollegen, den Außenminister Eduard Schewardnadse, um ein Vier-Augen-Gespräch. Ich sagte ihm: "Ich muss mit Ihnen über etwas reden, was uns beide betrifft: Sie haben eine Armee in der DDR stehen; und die Menschen dort sind meine Landsleute. Nächstes Jahr kann es eine dramatische Entwicklung geben. Was 1953 passiert ist, dass russische Panzer Demonstranten niederwalzten, darf sich dann nicht wiederholen."

Und?
Genscher: Naja, Schewardnadse kam Anfang 1989 auf mich zu und sagte: "Wir haben alle Quellen genutzt, und wir haben viele, und Sie schätzen die Lage falsch ein." Aber ich wusste: Der Sommer kam, damit die Reisemöglichkeiten; Papst und Solidarnosc-Bewegung hatten Spuren hinterlassen. Es kribbelte!

Wie groß ist der Beitrag der Freundschaft zwischen Ihnen und Schewardnadse an der Wiedervereinigung?
Genscher: Vertrauen ist das Wichtigste, um komplizierte Fragen zu lösen. Ein gutes Klima kann sicher keine Gegensätze überwinden, aber Auswege aus vermeintlichen Sackgassen finden. Es hat die Verhandlungen erleichtert.

Mehr nicht?
Genscher: Na, sitzen Sie mal dem Außenminister der Sowjetunion gegenüber und machen ihm klar, dass Deutschland wiedervereinigt, dazu Teil der EU und der Nato, wird. In der Situation muss man eine menschliche Ebene finden, so als würde man mit einem Nachbarn über den Apfelbaum am gemeinsamen Zaun reden. Der andere muss das Gefühl haben, dass ich mit ihm einen Weg suche, wie es für ihn leichter wird.

Als Schewardnadse, der mithalf, den Kalten Krieg zu beenden, dieses Jahr starb, waren nur zwei ehemalige westliche Außenminister bei der Beisetzung. Sie waren einer davon.
Genscher: Ja. Ich hatte aber auch zu Michail Gorbatschow ein gutes Verhältnis. Diese beiden Männer waren im kommunistischen System groß geworden - im doppelten Sinne. Dieses System dann in Frage zu stellen, dazu gehört eine ganze Menge. Mich hat tief beeindruckt, dass sie dazu die Kraft gefunden und ihre innere Freiheit bewahrt haben.

Sie haben die DDR verlassen und sind in den Westen gezogen, als Sie 25 Jahre alt waren - im Jahr 1952. Was hat Sie dazu motiviert?
Genscher: Es gab zwei Gründe: - zum einen das Gefühl, dass die Wiedervereinigung in weite Ferne rückte. Zum zweiten die Einsicht, dass die DDR nicht mein Staat war. Die Frage war dann nicht, ob ich gehe, sondern nur noch, wann. Als die Behörden meine Bekannten immer intensiver ausfragten, machte ich mich mit zwei Kommilitonen auf den Weg.

Das klingt so einfach.
Genscher: Das war es aber nicht. Es fiel mir schwer zu gehen. Ich hatte meinen Vater verloren, als ich neun Jahre alt war. Nun musste ich vorerst die Kleinstfamilie, also meine Mutter, zurücklassen. Außerdem hatte ich mir immer vorgestellt, genau wie mein Vater Jurist in Halle zu werden. Ich bin tief heimatverbunden. Doch das Leben verlief anders.

Was ist denn heute für Sie Heimat?
Genscher: Meine Heimat ist und bleibt Halle, aber Zuhause sind wir hier - bei Bonn.

Würden Sie sagen, dass die deutsche Einheit Ihr Lebensziel war?
Genscher: Sagen wir es so: Ich bin mir nicht sicher, ob ich mein Leben der Politik gewidmet hätte, wenn ich in normale, demokratische Umstände hineingeboren worden wäre. Mit 15 Jahren wurde ich zur Flak eingezogen, danach kam ich in Kriegsgefangenschaft - wir waren Kindersoldaten. Als wir all das überlebt hatten, kam der Wunsch: Was war, darf nicht wiederkommen! 1946 trat ich dann im Osten in die Liberaldemokratische Partei ein, die zugelassen war, und wurde mit der Zeit stocksauer, dass das Neue wie das Alte war - und nur in einem Gewand mit anderer Färbung daherkam. Der Eintritt in die Politik war sicher eine Lebensentscheidung.

... und die Politik hat Ihr Leben bestimmt. Nehmen wir nur einmal das verrückte Tempo, das die Prager Botschaftskrise in Ihr Leben gebracht hat. Am 23. September fliegen Sie zur Uno-Vollversammlung nach New York - wegen eines Herzinfarktes im Juli zuvor fliegen einsatzbereite Kardiologen gleich mit. Sie sprechen vor 140 Außenministern, am Tag danach wollen Sie sich mit Schewardnadse wegen der Situation in Prag absprechen. Die Zeit ist knapp, Sie werden daher mit Blaulicht durch die Rushhour von New York eskortiert. Rückflug nach Bonn am nächsten Tag, Landung, Fahrt ins Kanzleramt, nachmittags Flug nach Prag. Um 18.59 Uhr stehen Sie auf jenem berühmten Balkon. Danach geht es weiter. Woher nehmen Sie Ihre Kraft?
Genscher: In einer derartigen Situation - wenn Sie die Flüchtlinge sehen, ihre Ängste - dann wachsen Ihnen Kräfte zu, wie Sie es nie für möglich gehalten hätten. Mich hat außerdem von jungen Jahren an geprägt, dass ich mich nicht meiner Krankheit ergeben wollte. 1946 hatte ich eine schwere Lungentuberkulose, drei Jahre meines Lebens habe ich in Lungenheilstätten und Spitälern verbracht. Manche hüllen sich mit so einer Beeinträchtigung ein wie in einen Kokon, entwickeln Lebensangst. Mein Arzt sagte mir: "Nehmen Sie den Kampf gegen die Krankheit auf, entschuldigen Sie keine Niederlage mit Ihrer Krankheit - oder es wird sie innerlich zersetzen." Das habe ich mir gemerkt. Ich haderte nie mit meinem Schicksal.

Ich würde gerne mit Ihnen noch über zwei aktuelle Entwicklungen sprechen. Wenn Sie auf die Lage in der Ukraine blicken, auf die Spannungen zwischen Russland und dem Westen, fürchten Sie da einen neuen Kalten Krieg?
Genscher: Als die Mauer fiel, habe ich gedacht, dass die Teilung Europas überwunden sei. Inzwischen stelle ich fest, dass viele im Westen den Mauerfall anders verstehen - nämlich so, als wäre die Teilungslinie von der Mitte Europas an die Westgrenze Russlands verlegt worden. Das ist ein historisches Missverständnis. An der Westgrenze Russlands beginnt nicht Westasien, sondern Osteuropa; das große russische Volk ist ein europäisches Volk. Auch hier beginnen westliche Fehler. Wir brauchen dringend einen neuen Anfang - auf beiden Seiten!

Können Sie das konkretisieren?
Genscher: Dass die EU ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine schließt, wäre in Russland sicher weniger als Bedrohung wahrgenommen worden, wenn gleichzeitig eine Freihandelszone mit Russland vorangetrieben worden wäre. Wir brauchen Russland, und umgekehrt. Wir können voneinander nur profitieren. Da ist Deutschland ganz besonders gefordert: Wir haben gezeigt, dass man aus Geschichte lernen kann, dass man gemeinsam besser vorankommt als gegeneinander. Das ist auch ein schönes Vorbild für die multipolare Weltordnung, in der wir heute leben! Stattdessen meinen manche: Die zwei Blöcke des Kalten Krieges sind weggebrochen; übrig geblieben ist Washington und von dort aus wird die Welt regiert. Wenn ein US-Präsident Russland zur Regionalmacht herabstuft, darf man sich nicht wundern, wenn die zeigt, was eine Regionalmacht alles kann.

25 Jahre nach dem Mauerfall stehen einige Politiker, darunter Bundesinnenminister Thomas de Maizière, einem kompletten Regierungsumzug von Bonn nach Berlin offen gegenüber. Was ist Ihre Position dazu?
Genscher: Man muss zu dem stehen, was man beschlossen hat. Warum soll eine Aufteilung zwischen Bonn und Berlin nicht auch in Zukunft möglich sein? Sie ist vom Prinzip her auch gar nicht neu. Gibt es nicht in fast allen Bundesländern Bundesoberbehörden? Jeder stehe zu seinem Wort.

Zur Person

Hans-Dietrich Genscher wuchs im bürgerlich-bäuerlichen Milieu in Halle an der Saale auf, studierte dort wie auch an der Universität Leipzig Rechtswissenschaften. Nach seinem Examen siedelte er 1952 in die Bundesrepublik nach Bremen über und tritt in FDP ein. Genscher war von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister sowie von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland.

1992, bei seinem Abschied vom Amt, war er Europas dienstältester Außenminister. Sein Markenzeichen - ein dünn gestrickter, gelber Pullunder - wurde mehrfach für wohltätige Zwecke versteigert. Der heute 87-Jährige lebt mit seiner Frau Barbara in Wachtberg-Pech. Drei Herzinfarkte hat er überstanden.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Lauterbachs Gesetz führt zu Chaos
Kommentar zu den Folgen der Cannabis-Legalisierung Lauterbachs Gesetz führt zu Chaos
Zum Thema
Ulrich Krökel, Warschau,
zur Situation nach
Russland zurückholen
Kommentar zur Situation nach 100 Tagen Krieg in der UkraineRussland zurückholen
Sprache der Stärke
Kommentar zu den Raktenlieferungen an die Ukraine Sprache der Stärke
Aus dem Ressort