Strukturwandel Wie das Ruhrgebiet die Zeit nach der Kohle einläutet

Dortmund/Gelsenkirchen · Gewerbe und ein gigantisches Möbellager, Parks, Wohnungen und 2020 die Landesgartenschau - An der Ruhr werden alte Bergbauflächen neu genutzt. Doch eine Frage bleibt: Wohin mit den Altlasten?

 Dass in 16 Monaten rund um den alten Förderturm des Bergwerks West in Kamp-Lintfort die Landesgartenschau startet, ist kaum zu glauben.

Dass in 16 Monaten rund um den alten Förderturm des Bergwerks West in Kamp-Lintfort die Landesgartenschau startet, ist kaum zu glauben.

Foto: Stefan Schelp

Wenn am Freitag die letzte Steinkohlezeche im Ruhrgebiet geschlossen wird, geht die jahrhundertealte Bergbaugeschichte an Ruhr, Emscher und Lippe zu Ende. Doch die Nach-Bergbau-Ära hat längst begonnen. Viel ist in Sachen Strukturwandel geschehen und gerade die Aktivitäten auf den früheren Zechengeländen sind oft zu Motoren dieses Wandels geworden. Doch manches hat auch nicht funktioniert. Eine kleine Reise durch das Revier.

Als die Zeche Gneisenau stillgelegt wurde, regierten in Düsseldorf noch Johannes Rau, in Bonn Helmut Kohl, in Washington Ronald Reagan, und in Berlin stand die Mauer fest zementiert. 33 Jahre ist das nun her, doch am Strukturwandel wird in Dortmund-Derne immer noch gearbeitet. „Der Druck war einfach nicht so groß, hier etwas Neues entstehen zu lassen“, sagt Stephan Conrad, Sprecher von RAG Montan Immobilien. Außerdem fehlten Ideen und Rezepte für eine neue Nutzung. Conrads Unternehmen kauft die ehemaligen Bergbauflächen von der Muttergesellschaft RAG auf, saniert sie, erschließt sie und vermarktet sie dann auch. 15 Jahre dauerte es in Derne von der Zechenschließung bis zu den ersten Überlegungen zur Nachnutzung. Gewerbe wollte man ansiedeln, um neue Arbeitsplätze zu schaffen, aber auch Wohnhäuser, ein Stadtteilpark und naturnahe Ausgleichsflächen sollten entstehen.

Wohin mit den Altlasten?

Doch erstmal ging es um eine andere Frage: Wohin mit den Altlasten aus dem 33 Hektar großen Industrieareal? Dort, wo der Boden besonders stark vergiftet war, sammelte man die belastete Erde aus dem Zechen- und Kokereigelände, sicherte sie durch Folien, bedeckte sie mit Mutterboden und ließ Gras wachsen. Fertig war das „Landschaftsbauwerk“. Von diesen gibt es um die 30 im Revier. Das Gneisenauer ist mit rund 20 Metern eines der höchsten.

Ein Trampelpfad führt hinauf. Von oben beschreibt Conrad die Entwicklung: 2006 gab es den Spatenstich für den Supermarkt, ein Jahr später wurde er eröffnet, wenige Monate später kam der Stadtteilpark dazu. Doch dann hakte es wieder. Reihenweise sprangen Logistiker und andere Gewerbetreibende ab, als sie feststellten, dass die Anbindung zu wünschen übrig ließ. Die Autobahn war zwar nur wenige Kilometer entfernt, doch der Weg dorthin führte über schmale Ortsdurchfahrten. Für Lastwagen ein No-Go-Kriterium. Zum Entwicklungssprung wurde dann die RAG-Entscheidung, selbst eine Straße zu bauen. Drei Jahre ist die Gneisenauallee nun fertig – mit Anschluss an die vierspurige B236 und weitere zwei Kilometer an die A 2. „Seit die Straße fertig ist, läuft das gesamte Gelände voll“, sagt Conrad. Eine große Logistikfirma und ein Unternehmen für Reisemobile haben schon gebaut. Ein Baumarkt kommt noch. Weitere Verträge sind unterschrieben.

Ein Blick auf die andere Seite zeigt: Auch der Wohnungsbau zieht an. Bis zu 200 Bürger werden vermutlich in den nächsten Jahren dort ein neues Zuhause gefunden haben. Die RAG-Montan-Immobilien schätzt, dass am Ende rund 1200 Arbeitsplätze neu entstanden sein werden. Natürlich viel weniger als früher. Immerhin waren in den 1970er Jahren in Zeche und Kokerei über 6000 Menschen beschäftigt. Fast 40 Jahre wird es also in Derne gedauert haben, bis aus der alten Industrie Neues entstanden ist. Es geht auch schneller.

Perfekte Infrastruktur für Strukturwandel ein Glücksfall

Zwei Dortmunder Stadtteile weiter westlich, in Ellinghausen, war Mitte der 1970er Jahre auf mehr als 100 Hektar eine Lagerstätte für die sogenannte nationale Kokskohlereserve eingerichtet worden. Angesichts der Ölkrise wollte Deutschland gewappnet sein für weitere Energieengpässe. Ende der 90er Jahre war das kein Thema mehr und man löste die Reserve auf. Da passte es gut, dass Ikea gerade Platz für ein Auslieferungslager suchte. Altlasten gab es dort wenige, so dass die ehemalige Kohlenhalde innerhalb von zwei Jahren zu einem Möbellager für Deutschland und Benelux sowie in weiteren zwei Jahren zu einer gigantischen Vertriebsstätte für ganz Europa wurde. 2750 Menschen arbeiten dort, Lastwagen können an 899 Toren vorfahren. Pluspunkte waren auch die perfekte Infrastruktur mit Anschluss an die Autobahn und an die Bahn – für den Strukturwandel war all das ein Glücksfall.

Doch zuweilen ist das, was mit viel Mühe angesiedelt wurde, einfach nicht beständig genug. In Gelsenkirchen zum Beispiel waren Politik, Verwaltung und RAG Montan Immobilien hoch erfreut, dass man ein ehemaliges Zechengelände am Schalker Markt in der Rekordzeit von vier Jahren entwickeln und vermarkten konnte. Die Highlights: ein niederländisches Solarunternehmen und ein Münchner Pharmagroßhändler, die Platz und Arbeitnehmer brauchten. Beides gab es Mitte der 2000er Jahre in Gelsenkirchen zuhauf, wo die Arbeitslosenquote bei weit über zehn Prozent lag. Doch 2012 war der Solarboom hierzulande zu Ende und die Firma musste aufgeben. Zwei Jahre zuvor hatte schon der Pharmahändler sein Geschäft am Standort Schalker Markt beendet. Glück für die Beschäftigen: Ihr neuer Arbeitsplatz lag nur ein paar Kilometer weit weg – in der Nachbarstadt Herne.

Subventionen für Sanierung und Entwicklung der ehemaligen Bergbauflächen

Dort, im Zentrum des Stadtteils Sodingen, hat sich das Land NRW aktiv am Strukturwandel beteiligt. Denn als es in den frühen 90er Jahren darum ging, das Gelände der ehemaligen Zeche Mont Cenis zu entwickeln, entschied sich das Landesinnenministerium dafür, dort seine Fortbildungsakademie zu bauen – in einem futuristischen Holz-Glas-Komplex mit der größten dachintegrierten Solaranlage der Welt und einer Energieversorgung aus Grubengas. Über die in den vergangenen Jahren reichlich sprudelnden Kohle-Subventionen hat der RAG-Konzern, mithin auch seine Tochter Montan Immobilien, bei der Sanierung und Entwicklung der ehemaligen Bergbauflächen natürlich auch von staatlichen Zuflüssen profitiert. Über die genaue Höhe gibt es keine Aufzeichnungen.

Wenn die letzte Zeche stillgelegt ist, dann werden auch die Subventionen versiegen. Grund genug für die RAG-Tochter, sich darum zu bemühen, die letzten Flächen so schnell wie möglich zu sanieren, zu erschließen und zu vermarkten, also loszuwerden. Besonders rentabel ist es dabei, Grundstücke für den Wohnungsbau zu verkaufen. Zum Beispiel in Neukirchen-Vluyn am Niederrhein. Das ist in den vergangenen vier Jahren prächtig gelungen. 300 Ein- und Mehrfamilienhäuser sind zwischen den Stadtteilen Neukirchen und Vluyn schon gebaut worden oder werden im nächsten Jahr gebaut. Verkauft sind inzwischen alle Grundstücke. Dabei hatte die RAG Montan Immobilien leichtes Spiel, denn Altlasten gab es auf dem Gelände des früheren Kohlenlagers nicht – im Gegensatz zum ehemaligen Zechengelände Niederberg auf der anderen Straßenseite.

Nach Sanierung und Erschließung der Flächen – die RAG Montan Immobilien hat hier insgesamt rund 25 Millionen Euro reingesteckt – könnte allerdings auch dort die Vermarktung beginnen. Wenn Politik und Verwaltung nicht etwas dagegen hätten. „Man will sich die gewachsene Struktur in den beiden Stadtteilen nicht zerstören lassen“, weiß RAG-Montan-Immobilen-Sprecher Conrad. Je einen großen Edeka und einen Rossmann-Drogeriemarkt gibt es dort, dazu weitere Nahversorgungsgeschäfte, Ärzte, Schulen, etc. Deshalb versucht die Stadt, einen anderen Weg zu gehen.

Neue Mitte soll entwickelt werden

In einem Teilgelände setzt man auf Firmen „rund ums Auto“, sagt Projektleiterin Ulrike Reichelt, in einem anderen Bereich auf Gewerbebetriebe – etwa ein Tiefbauunternehmen, das sich erweitern wollte – und in wieder einem anderen Bereich auf kleinere Geschäfte, wie einen Feinkoster, vielleicht einen Biomarkt und einen Discounter. Läden also, die „nicht zentrenschädlich“ sind, wie Reichelt sagt.

Rund um die denkmalgeschützten Maschinenhallen aber plant die Stadt den großen Wurf: einen neuen Platz, Raum für Freizeit, Sport, Gastronomie und Tourismus, einen Bürgerpark und ein grünes Landschaftsband als Verbindung zu den Stadtteilen. Eine neue Mitte soll entwickelt werden. „Dann wächst städtebaulich etwas zusammen“, sagt Reichelt. Derzeit ist die Stadt auf der Suche nach einem Investor. Conrad ist skeptisch, ob der große Wurf gelingen wird. Ideen, wie die Volkshochschule oder ein Kulturzentrum in den denkmalgeschützten Zechengebäuden anzusiedeln, hält er aus Kostengründen für „kaum zu realisieren“.

Landesgartenschau 2020 rund um alten Förderturm

Viel positiver ist die Situation im benachbarten Kamp-Lintfort, wo Stadt, Bürgerschaft und die RAG Montan Immobilien mit dem Land rund um den alten Förderturm des Bergwerks West die Landesgartenschau 2020 planen. Ein Kino soll es geben, mehrere Wohngebäude, eine neue Eisenbahnlinie nach Moers, aber vor allem ganz viel Grün. Wer sich auf dem Gelände in diesen Tagen, gerade einmal 16 Monate vor Beginn umschaut, kann sich das alles nicht vorstellen. Zahlreiche Hügel mit Bodenaushub und eine weite braune Fläche prägen das Bild. „Kein Problem“, sagt RAG-Montan-Immobilien-Sprecher Conrad, „im nächsten Jahr kommen die Landschaftsbauer und modellieren das Gelände. Danach wird gepflanzt.“ Der Weg bis zu blühenden Landschaften scheint also gar nicht mehr so weit zu sein.

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