Macht und Mehrheit Wenn Demokratie ins Büro einzieht

Bonn · Wahlen sind konstituierend für die beste aller Staatsformen. Aber auch in Schulen, Unis und Unternehmen gibt es Bereiche, in denen die Macht von Mitarbeitern, Schülern oder Studenten ausgeht. Einen Pilotversuch gibt es bei der Telekom.

Demokratie am Arbeitsplatz? Für viele unvorstellbar. Im Job wird das gemacht, was der Chef sagt. Jedenfalls meistens. Eigenverantwortung? Oft Fehlanzeige. Eine Situation, die unzufrieden macht oder sogar unglücklich. Übrigens nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Chefs. Aber die wenigsten von ihnen tun was dagegen.

Anders Philipp Schindera, Kommunikationschef der Telekom. Er holte die Demokratie ins Büro und im Rahmen eines Pilotversuchs seine 140 Mitarbeiter an die Wahlurne. Auf dem Wahlzettel, selbstverständlich auf magentafarbenem Grund, standen 18 Kandidaten. Zehn Männer und acht Frauen. Jeder Mitarbeiter der Abteilung hatte bis zu vier Stimmen, mit deren Hilfe am Ende vier Gewählte ins Führungsgremium entsandt wurden. Die Regeln einfach und klar: mehrere Stimmen für einen Kandidaten – verboten, Wahlzettel mit mehr als vier Stimmen – ungültig, Amtszeit – ein Jahr. Kandidieren konnte jeder, sogar der Neuling, der erst zwei Monate in der Abteilung war. Der nahm seine Chance war – und obwohl er unterlag, erzielte er damit einen Achtungserfolg als einer, der bereit ist, Verantwortung zu übernehmen.

Schindera dagegen zeigte sich mit der Wahl vor einem guten halben Jahr als Chef bereit, diese Verantwortung zu teilen. „Die Idee hat mich das ganze Jahr lang bewegt“, erzählt er von der Initialzündung im Frühjahr 2016. Ein Twitterpost zur Wahl von Führungskräften habe ihn ins Grübeln gebracht. Absender war Stephan Grabmeier, als ehemaliger Telekom-Mann kein Unbekannter. Der 47-jährige Schindera nahm Kontakt auf, um mehr Informationen über diesen faszinierenden Ansatz zu bekommen, der in der Haufe-Gruppe kursierte – einer aus einem Fachverlag hervorgegangenen Ideenschmiede für Personalentwicklung, wo Mitarbeiter Chefs auch mal abwählen und bei der Auswahl neuer Kollegen mitreden.

„Das war ein Dreiklang“, erinnert sich Stephan Grabmeier, Mitglied der Haufe-Geschäftsleitung, wo Wahlen von Führungskräften zum Unternehmensalltag gehören. „Sozusagen vom verrückt zum warum zum wie genau.“ Im Klartext: Als vor fünf Jahren die ersten Wahl-Ideen die Runde machten, hätten die meisten sie für überkandidelt gehalten. Zwei Jahre später hätten die ersten den Sinn hinterfragt, inzwischen interessierten sich viele für die Umsetzung. „Aber nur wenige sind so mutig wie Philipp Schindera“, findet Grabmeier. Gerade in Konzernen eine Seltenheit, dass einer sich so weit vorwage. Aber auch Schindera sei nicht aus dem Nichts mit Wahlen an den Start gegangen. Mit der Trennung von fachlicher und disziplinarischer Führung und dem Aufbau eines Projektpools, in dem sich jeder Mitarbeiter um eine Aufgabe oder einen Auftrag bewerben kann, habe der Kommunikationschef Jahre zuvor die Grundsteine gelegt, so Grabmeier. Ob Selbstorganisation funktioniert, hängt für ihn vom „Reifegrad des Unternehmens“ ab.

Wahlen am Arbeitsplatz gelten nicht nur für ihn als Werkzeug für Fortgeschrittene. Auch Hermann Arnold, Mitbegründer der Haufe-Tochter Umantis, siedelt in seinem Buch „Wir sind Chef“ die direkte Wahl der Vorgesetzten auf der obersten Stufe an. Die Königsdisziplin einer Unternehmenskultur, die sich von den Führungsprinzipien „Weisung und Kontrolle“ hin zur Selbstorganisation entwickelt.

Als Lohn verspricht Arnold „zentrale Vorteile“: Gewählte Führungskräfte verfügen über Rückhalt im Team, Erwartungen werden transparenter, Kommunikation klarer und wertvolle Mitarbeiter verlassen nicht mehr aus Frust über den Vorgesetzten die Firma. Was nicht zuletzt daran liegt, dass dieser nur Chef auf Zeit ist und von der Akzeptanz im Team abhängig. Das Heilsversprechen ist groß: Bessere Zusammenarbeit, motiviertere Mitarbeiter und ein erfolgreicheres Unternehmen – wer will das nicht?

Die Arbeitnehmer jedenfalls wünschen sich mehr Demokratie am Arbeitsplatz. Sie würden gerne Chefs wählen, favorisieren flachere Hierarchien und mehr Entscheidungskompetenz. Eine Erkenntnis, die nicht ganz neu ist. Schon 2015 haben Forscher der Technischen Universität München und des Instituts für Sozialforschung eine Studie mit dem Titel „Das demokratische Unternehmen“ vorgelegt, die in einem Buch mündete. Übrigens verlegt beim Fachverlag Haufe, der Spinne im Netz, bei der die Fäden zusammenlaufen.

In der repräsentativen Umfrage unter 1000 Deutschen im Alter von 18 bis 65 Jahren stimmten zwei Drittel der Befragten ganz oder teilweise der Aussage zu, dass Unternehmen demokratischer geführt werden sollten. Ganz anders urteilten Chefs, vor allem, wenn es um sogenanntes Herrschaftswissen geht. Das spiegelt sich in den Einschätzungen von 45 Führungskräften, die die Wissenschaftler in einer zweiten Welle befragt haben. „Schwer realisierbar“, urteilten diese über eine demokratischere Arbeitsorganisation. Die größten Bauchschmerzen bereitete es den Führungskräften, den Mitarbeitern sensible Unternehmensdaten anzuvertrauen – zum Beispiel die Gehaltshöhe ihrer Kollegen.

Umgekehrt, so zeigen Untersuchungen, wirken demokratische Strukturen eines Unternehmens positiv auf die Attraktivität als Arbeitgeber und damit als Plus im Wettbewerb um Fachkräfte und helle Köpfe, aber auch anziehend auf potenzielle Investoren.

„Überall dort, wo Menschen unterschiedliche Perspektiven haben, wo es wichtig ist, Wissen, das auf mehrere Köpfe verteilt ist, zusammenzubringen – da sind demokratische Verfahren sehr geeignet“, fasst Studienleiterin Isabell Welpe die Ergebnisse zusammen. „Technischer Wandel alleine, der nicht unterstützt wird von sozialem und organisatorischem Wandel, kann nicht funktionieren“, ist sie überzeugt.

Rund ein halbes Jahr haben die Vorbereitungen auf die Wahl in der Kommunikationsabteilung der Telekom gedauert, erzählt Schindera, dem es nach vier Jahren gewachsener Eigenverantwortung für jeden im Team „einfach irgendwann unlogisch schien, den Mitarbeitern so viel Verantwortung zu geben, sie aber nicht an der Führung zu beteiligen“. Dass der Impuls auf fruchtbaren Boden fiel, zeigten nicht zuletzt die Zahl der 18 Bewerber und der im Spätsommer startende Wahlkampf, den die Kandidaten sehr unterschiedlich betrieben haben. Vom Video mit dem bei Trump abgekupferten Slogan „Make Coms great again“ bis zum Flyer war alles dabei. Ein Bewerbungspapier mit ernstzunehmendem Inhalt und einen Auftritt bei der Wahlversammlung musste jeder Kandidat beisteuern. „Ein toller Wahlkampf“, findet Schindera. „Wie sagt man: Er war durch Sachthemen geprägt.“

Auch bei Michaela Schwinge. „Ich habe nie aktiv Wahlkampf gemacht, meine Bewerbung waren die acht Jahre davor“, lautete ihre Devise. Das zog, denn mit zwei Kolleginnen, darunter eine mit Dienstsitz Frankfurt, und einem Kollegen sitzt die 31-Jährige nun im Führungskreis, der durch die Wahl weiblicher geworden ist. Auch ihre Rolle dort hat sie klar definiert: „Ich bin nicht Klassensprecher, sondern Individuum.“ Auch wenn die Kollegen die gewählten Vertreter schon direkter danach fragen, wie es denn in den Chefrunden so abläuft. „Es ist schön, den Überblick zu bekommen“, sagt sie und hat den Schritt keine Sekunde bereut. Obwohl es nicht nur rosige Seiten gibt: „Man muss Entscheidungen mit vertreten und sich auch mal der Kritik stellen.“ Andererseits hätten die Gewählten aber schon Alltagsprobleme lösen können, die sonst unterhalb der Flughöhe der Führungskräfte unentdeckt blieben.

„So transparent wie möglich“ handhaben Schindera und seine Mitarbeiter die neue Situation. Allerdings, so räumt er ein, gibt es auch Grenzen. Zum Beispiel in Personalfragen. Klar war von vornherein, dass es für die zusätzliche Verantwortung keine Gehaltserhöhung geben kann. Das hätte die Gehaltsstruktur des Konzerns durcheinandergewirbelt. „Als Bewerber habe ich darüber gar nicht nachgedacht“, sagt Michaela Schwinge, „sondern eher die Chance gesehen, mich weiterzuentwickeln.“ Auch Schindera spricht von einem Fortschritt und ist „sehr, sehr froh, dass wir das ausprobieren“. Für ihn ist es „eine zeitgemäße Form der Führung“. Denn wenn sich in einer digitalisierten Welt die Art und Weise, wie wir arbeiten, total verändere, funktioniere das alte Modell eben nicht mehr, in dem einer die Befehle erteile und die Ergebnisse kontrolliere. Eine Haltungsfrage, findet er. Wie auch die nach dem Sommer auf das Team wartende Frage nach der Fortsetzung des Experiments.

Die stellt sich für andere dagegen nicht mehr. Das wohl älteste Modell, den eigenen Chef zu wählen, praktizieren die Berliner Philharmoniker – und haben dabei die Qual der Wahl aus der Weltspitze der Dirigenten. Der amerikanische Membranhersteller Gore handelt ganz anders. Er verzichtet nach dem Motto „no ranks, no titles“ weitgehend auf Chefs und macht dafür die Mitarbeiter zu Teilhabern. Dem Produkt scheint es nicht zu schaden. Im Gegenteil.

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