Hans-Dietrich Genscher Seine Sicht der Dinge

BONN · Hans-Dietrich Genscher hat Politik immer als Prozess begriffen, nicht als etwas, das beschlossen und verkündet würde und dann basta. Das ging so weit, dass sich in seinen Reden und Erklärungen manchmal nur Halbsätze änderten.

 Hans-Dietrich Genscher.

Hans-Dietrich Genscher.

Foto: dpa

Halbsätze, auf die es aber ankam und die sein Pressestab den Bonner Journalisten dann besonders nahe zu bringen hatte. Wandel durch Abänderung.

Nun legt der Altmeister der bundesrepublikanischen Außenpolitik in Form eines Gespräches so etwas wie sein Vermächtnis vor. Mal gibt er kurze, mal seitenlange Antworten. "Meine Sicht der Dinge" hat der 88-Jährige das mehr als 200 Seiten umfassende Buch genannt, das er am Freitag im Berliner Ensemble vorstellen wird. Wer verstehen will, wie Genscher "tickte und tickt", wird dieses Werk mit Gewinn lesen, wer auf vertrauliche Berichte, auf Blicke durchs Schlüsselloch setzt, wird enttäuscht werden. Genschers Sicht der Dinge ist im Grunde eine sehr einfache und klare: Er setzt auf Kooperation und damit auf Achtung - und belegt an vielen Beispielen seines politischen Lebens, dass er das immer so gehalten hat.

Im Zentrum steht dabei die Außen-, nicht die Innenpolitik und in der Außenpolitik Europa. Zitat: "Als am weitesten fortgeschrittener Staatenverbund kann Europa als Versuchslabor für die neue multipolare Weltordnung gelten, die sich herauszubilden beginnt, als Beispiel für eine ,Weltnachbarschaftsordnung´". Wer dies als Richtschnur begreift, muss Kritik üben, Kritik an den USA etwa und Kritik an der aktuellen Behandlung Russlands. Genscher tut das. Für seine Verhältnisse sogar ziemlich unverblümt.

Beispiel: "Noch immer werden die Veränderungen in der Welt in Washington nicht realisiert. Noch immer spukt die überhebliche Vorstellung der Bush-junior-Zeit herum, die bipolare Weltordnung des kalten Krieges sei durch eine unipolare, auf Washington fokussierte und von dort dominierte Weltordnung abgelöst worden. Aber das ist schon nicht mehr die Welt von heute und erst recht nicht die von morgen."

Kehrseite der Medaille: die Missachtung oder Geringschätzung Russlands. Genscher: "Russland versteht sich - wer immer da regiert - als Großmacht und das zu Recht." Stabilität im OSZE-Raum gebe es "nicht ohne Russland und erst recht nicht gegen Russland". Das sind sie: die berühmten vier Buchstaben, die Genschers Politik als Außenminister (von 1974 bis 1992) kennzeichneten: erst die KSZE, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, dann die OSZE, die Organisation gleichen Namens und schließlich nach der Einheit die Charta von Paris. All das, und Genscher kritisiert es, liegt im Dämmerschlaf. Gewonnene Einsichten wurden zu verpassten Chancen. En passant widerlegt er dabei die Behauptung, Moskau sei ein Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung versprochen worden und lobt - ganz anders als Helmut Kohl - Michail Gorbatschow.

Genschers Gang durch die Welt bringt überraschend positive Wertungen über China, deutliche Kritik an der aktuellen Politik Israels und ein Ja zum EU-Beitritt der Türkei ("nicht herausmogeln"). Man erfährt Menschliches über die Behandlungen gesundheitlich angeschlagener Gesprächspartner (Breschnew, Gromyko) und man liest - für Genscher überraschend - nicht einen einzigen Witz.

Dazu ist die Lage zu ernst. Noch einmal Genscher: "Es ist nicht nur das Ost-West-Verhältnis, das mir große Sorge bereitet. Besorgt bin ich auch wegen der Tendenzen in Europa. ... Ein Europa im Rückwärtsgang darf es nicht geben."

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