Interview mit Bonner Medienforscherin Sabria David: Unsere Demokratie ist verletzlicher, als wir denken

Bonn · Die Bonner Medienforscherin Sabria David beschäftigt sich mit den Auswirkungen des digitalen Wandels auf die Gesellschaft. Ein Gespräch über Hass im Netz, postfaktische Politik und die Notwendigkeit, politische Bildung neu auszurichten.

„Hate Speech“ ist eine relativ junge Wortschöpfung. Was hat es damit auf sich?

Sabria David: Damit bezeichnet man die Hassrede – eine negative, destruktive Kommunikationsform, die nicht neu, aber durch die sozialen Medien stärker wahrnehmbar ist. Die Digitalisierung hat unsere Schrift- und Kommunikationskultur ja fundamental verändert. Dieser Wandel ist in seiner Bedeutung mit der Erfindung des Buchdrucks vergleichbar. Die Menschen äußern sich im Internet über die Schrift, folgen dabei aber den Regeln der Mündlichkeit. Sie finden dort eine Plattform, auf der sich Gerüchte, Verleumdung und üble Nachrede verbreiten lassen. Auf der anderen Seite hat die Digitalisierung auch Positives bewirkt: Es gibt einen neuen Raum für Gespräche.

Wer bedient sich der Hassrede?

David: Grundsätzlich suchen die Menschen im Netz Kontaktaufnahme, Nähe, Bindung und Beachtung. Darunter sind auch Menschen mit destruktiven Impulsen – die sogenannten Trolle. Sie haben das Bedürfnis, durch Negatives Aufmerksamkeit zu erreichen. Das funktioniert, und es wird zum Teil gezielt eingesetzt. Es gibt ja ganze Trollfabriken. Dort sitzen Leute, die in sozialen Medien mit toxischen Attacken in Diskurse eingreifen und die Meinungsbildung beeinflussen.

Wie sieht so eine Trollfabrik aus?

David: Die stelle ich mir lustig vor, wie ein Bergwerk mit lauter Zwergen (lacht). Im Ernst: Alles, was funktioniert, ist auch instrumentalisierbar. Uns muss bewusst sein, dass wir mit dem Internet einen sehr wichtigen Resonanzraum haben, der sowohl zum Guten wie zum Negativen nutzbar ist. Wenn man sich diesen Raum zu eigen machen will, muss man verstehen, wie die Mechanismen dort funktionieren. Und man muss die dahinter liegenden sozialen Bedürfnisse erkennen. Dieses Feld wird sehr gekonnt von destabilisierenden Kräften bespielt.

Wen meinen Sie damit?

David: Nehmen wir als Beispiel die Salafisten. Die richten sich an junge Menschen, die unsicher sind, keine Bindung und keine Orientierung haben. Die Salafisten haben genau das erkannt und stellen sich darauf ein. Nach außen hin treten sie keineswegs zerstörerisch auf. Vordergründig hören sie zu und geben Antworten, natürlich mit dem Ziel, die Menschen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. So ähnlich funktioniert auch der Rechtspopulismus, der die Welt in Zeiten der Globalisierung wieder kleiner macht und scheinbar Sicherheit bietet. Es ist kein Zufall, dass inzwischen überall nach Grenzen gerufen wird. Dieses Destruktive ist letztlich auch der Nährboden, auf dem postfaktische Politik Erfolg hat. Es gab schon immer den Kampf um Fakten, ebenso wie Propaganda oder die Verdrehung von Tatsachen. Aber all das konzentrierte sich auf die Frage, was wahr ist. Eben das wird im Zeitalter der Postfaktizität untergraben. Damit wird der Eindruck vermittelt, dass es egal ist, ob etwas richtig ist oder falsch. Eine bedenkliche Entwicklung, der man mit keinem Faktencheck beikommen kann.

Was macht das mit unserer Demokratie?

David: Die ist verletzlicher als wir denken. Im vergangenen Jahr sind einige Dinge entgleist – nehmen Sie den Brexit und die Krise Europas, nehmen Sie die Wahl von Trump zum US-Präsidenten. Da sind die destruktiven Kräfte auf dem Vormarsch. „Take Back Control“, „Make America Great Again“: Diese Claims haben vielen Menschen das Gefühl von Bedeutung, Bestätigung und Sicherheit gegeben. Welche Folgen diese Wahlentscheidungen auf die Dauer haben, scheint egal zu sein. Viele sind offenbar bereit, Werte und Prinzipien aufzugeben – für das Gefühl, Bedeutung und Identität zu haben und dazuzugehören. Dafür werden sogar autoritäre Strukturen in Kauf genommen. Das ist eine merkwürdige Mischung aus Narzissmus und Selbstzerstörung.

Wie kann man gegensteuern?

David: Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie die Demokratie in einer digitalen Gesellschaft aussehen soll. Wir müssen den gesellschaftlichen Nährboden so bereiten, dass dieser Resonanzraum Internet positiv und auf einladende Weise genutzt wird – im Sinne von Dialog, Diskussion, Austausch und gemeinschaftlichem Lernen, auch über Sprach- und Ländergrenzen hinweg. Wir müssen Teilhabe ermöglichen, Gestaltungsspielräume eröffnen, Bindungen schaffen. All das hat eine positive Kraft, die auch jene Menschen erreichen wird, die sich in einem Identitäts-Vakuum befinden. Wir müssen nach dem suchen, was uns zusammenhält, vor welchen gemeinsamen Herausforderungen wir stehen und Lösungen finden, wie wir mit ihnen umgehen, welche Gestalt wir der digitalen Gesellschaft geben wollen. Da sind alle gefragt: die öffentliche Hand, Institutionen, Vereine, Kirchen, aber vor allem auch die politische Bildung. Sie wird immer mehr zur digitalen Bildung. Wir können es uns nicht leisten, unsere Kinder künftig ohne digitale Kompetenz in die Welt zu entlassen. Unsere etablierte Gesellschaft ist in diesen Fragen noch viel zu schwerfällig. Dabei haben wir keine Zeit zu verlieren, das hat das vergangene Jahr ja gezeigt.

Das Interview ist Teil der GA-Serie "Macht und Mehrheit"

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