Teilhabegesetz Reform der Behindertenhilfe stößt auf Kritik

Berlin · Sozialministerin Andrea Nahles stellt heute den umstrittenen Entwurf des Bundesteilhabegesetzes vor. Behindertenverbände laufen allerdings Sturm dagegen.

 Kritiker des Gesetzesentwurfes protestieren vor dem Bundessozialministerium in Berlin.

Kritiker des Gesetzesentwurfes protestieren vor dem Bundessozialministerium in Berlin.

Foto: Fabian Vögtle

Alexandra Dörfl hat das Usher-Syndrom. In der Dunkelheit kann sie sich nicht ohne Begleitung bewegen, da ihr Sichtfeld eingeschränkt ist. Außerdem hört sie kaum. „Alleine in einer fremden Umgebung unterwegs zu sein, ist für mich nicht möglich“, sagt sie. Ein selbstbestimmtes, eigenständiges Leben führen. Das ist der große Wunsch von Menschen mit Behinderung wie Dörfl.

Möglich machen soll das ein neues Bundesteilhabegesetz. Bundesozialministerin Andrea Nahles stellt heute den von der Regierung beschlossenen Gesetzesentwurf vor, der danach zur Abstimmung in Bundestag und Bundesrat geht. Nahles selbst sieht in dem Gesetz „eine der größten sozialpolitischen Reformen in der Legislaturperiode“. Vielen ist das zu wenig. So fordert Dörfl zusammen mit Gudrun Marklowski-Sieke von der Selbsthilfegruppe der Taubblinden Berlin beispielsweise gesetzlich bewilligte Assistenzen. „Wir müssen endlich raus aus der Isolationshaft“, sagen beide unisono.

Behindertenverbände laufen jedoch schon seit einigen Wochen dagegen Sturm. Beinahe täglich finden in Berlin Protestaktionen gegen die Reform der bisher gültigen Eingliederungshilfe statt. Mit dem Slogan #nichtmeinGesetz fordern Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen Veränderungen des Gesetzesvorschlags. So auch bei einer Mahnwache vor dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Dass Einkommen und Eigenvermögen beim Anspruch auf staatliche Unterstützungs- und Teilhabeleistungen, wie etwa eine Assistenz oder einen Dolmetscher, weiter verrechnet werden, sorgt auch bei Carola Szymanowicz vom Landesverband für Gehörlose Potsdam für Unmut. „Ich habe auch ein Recht auf Vermögen und Besitz. Dass ich deswegen keinen Dolmetscher gestellt bekomme, ist doch keine Chancengleichheit“, kritisiert die seit ihrer Geburt gehörlose Frau. Ihrer ehrenamtlichen Arbeit für die SPD Falkensee oder anderen Tätigkeiten könne sie so nicht nachgehen.

Für Katrin Werner, Behindertenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, ist das nicht zumutbar. „Dass Teilhabeleistungen weiter abhängig vom Geldbeutel der Betroffenen sein sollen, führt zwangsläufig zu Altersarmut“, sagte sie dem General-Anzeiger. Sie kritisierte, dass das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen künftig unter Kostenvorbehalt stehe. Wer bisher 2600 Euro oder mehr angespart hatte, im Besitz eines Hauses, Autos oder anderen Vermögens ist, dem wird die staatliche Förderung gekürzt. Menschen mit Behinderung, die bei ihrer Arbeit auf Assistenz angewiesen sind, müssen einen Teil ihres Abkommens zurückzahlen und sich somit an den Kosten beteiligen.

Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, bezeichnete in einem Interview der „Berliner Zeitung“ die künftige Erhöhung des Vermögensfreibetrags auf zunächst 25000 Euro und ab 2020 auf 50000 Euro zwar als Fortschritt. Allerdings verstehe sie auch die Forderung von Behindertenverbänden, Einkommen und Vermögen überhaupt nicht mehr auf die Assistenzleistungen anzurechnen. „Das muss der Einstieg in den Ausstieg dieser Anrechnung sein“, sagte sie zur neuen Regelung. Im Gesetzesentwurf sehe sie insgesamt gute Ansätze, zur wirklichen Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Behinderung reiche dieser jedoch nicht aus, sagte die blinde, mehrmalige Paralympics-Siegerin im Biathlon und Skilanglauf.

Bei einem anderen Kritikpunkt der Behindertenverbänden, die ihre Anregungen bereits im Gesetzesgebungsverfahren in einer Arbeitsgruppe im Sozialministerium einbrachten, sieht auch Corinna Rüffer, Behindertenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Verbesserungsbedarf. Das Teilhabegesetz sieht staatliche Leistungen nur für diejenigen vor, die in mindestens fünf von neun Lebensbereichen Beeinträchtigungen haben und deshalb Unterstützung brauchen. Wer „nur“ in einem Bereich – etwa der Kommunikation oder Mobilität eingeschränkt ist - erhält demnach gar keine Förderung. „Der Kreis der Leistungsberechtigten darf nicht verengt werden“, sagte Rüffer dem General-Anzeiger.

Laut der Bundestagsabgeordneten werde das Teilhabegesetz weder seinem Namen noch der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht. „Der Entwurf ist enttäuschend“, kritisierte sie und fügte hinzu: „Mit diesem Gesetz soll offensichtlich gespart werden – auf Kosten von Menschen mit Behinderungen. Gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe gibt es damit nicht.“

Katja Fischer, Dolmetscherin für Gebärdensprache, weist daraufhin, dass für den privaten Bereich keine Finanzierung möglich sei. Und auch bei Beruf oder Ausbildung würde das neue Gesetz keine Verbesserungen der Partizipation und Inklusion darstellen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort