Rede von Bundespräsident Joachim Gauck Plädoyer für mehr Offenheit

Berlin · In seiner Rede vor 200 Gästen im Schloss Bellevue plädiert Bundespräsident Joachim Gauck für mehr Bürgerengagement und für eine stärkere Rolle Deutschlands in der Welt.

 Zum Ende seiner Amtszeit appellierte Joachim Gauck in einer Rede im Schloss Bellevue an die Bürger, sich stärker für Freiheit und Demokratie zu engagieren.

Zum Ende seiner Amtszeit appellierte Joachim Gauck in einer Rede im Schloss Bellevue an die Bürger, sich stärker für Freiheit und Demokratie zu engagieren.

Foto: dpa

Noch 25 Tage. Dann verlässt Joachim Gauck jenes höchste Staatsamt, in das er, im Taxi sitzend, aus dem Flugzeug kommend und keine Zeit mehr für eine schnelle Dusche, am 19. Februar 2012 gerufen wurde. Damals zunächst gegen den Willen von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom damaligen FDP-Chef Philipp Rösler mit einem Überrumpelungscoup durchgesetzt. Eisige Atmosphäre in der schwarz-gelben Koalition.

Doch für Gauck, den ehemals bürgerrechtsbewegten Pastor aus Rostock, wurde an jenem Februarabend im Bundeskanzleramt ein Märchen Wirklichkeit – mitten aus dem echten Leben. Aufgewachsen in der DDR, stand er davor, erster Mann im Staate zu werden. Gauck, damals 72 Jahre alt, war gerührt: „Irgendwann ganz tief in der Nacht werde ich vielleicht auch beglückt sein. Im Moment bin ich mehr verwirrt.“

Einen Monat später stellte das Staatsoberhaupt am 23. März 2012 vor seiner Antrittsrede die Frage: „Wie soll es aussehen, unser Land?“ Fünf Jahre später greift Bundespräsident Gauck diese Frage, gut drei Wochen vor seinem Auszug aus Schloss Bellevue, noch einmal auf. Beim Versuch einer Antwort sind unter 200 geladenen Gästen viele Freunde aus alter, bürgerrechtsbewegter Zeit: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Roland Jahn, Werner Schulz. Noch einmal dabei sein, wenn einer wie Gauck Bilanz zieht. Es wird ein Brief an sein Land.

Gauck sieht Gefahren

Gauck sieht ein Land, das sich verändert hat, weil sich auch die Welt gewandelt hat. Aber damals wie heute ist Gauck unverändert davon überzeugt: „Es ist (...) das beste, das demokratischste Deutschland, das wir jemals hatten.“ Doch nach fünf Jahren im höchsten Staatsamt, nach „Tausenden von Begegnungen“, müsse er auch erkennen, „dass diesem demokratischen und stabilen Deutschland auch Gefahren drohen“.

Gauck wird auch in dieser letzten großen Rede seiner Zeit als Bundespräsident noch einmal deutlich machen, dass Demokratie, Freiheit, Rechtsstaat, Bürgerrechte, ihm, der in der Unfreiheit der autoritären DDR aufgewachsen ist, besonders am Herzen liegen. Gauck sagt es in seiner blumigen Sprache, häufig mit etwas Pathos in der Stimme: „Aber Demokratie ist kein politisches Versandhaus.“

Der Staat sei eben kein Dienstleister, von dem seine Bürger wie Kunden erwarten dürften, „dass er ihre Erwartungen und Wünsche möglichst umfassend befriedigt“. Nein, Demokratie bedeute Auseinandersetzung, sei anstrengend, aber Demokratie sei eben auch „Mitgestaltung am eigenen Schicksal“. Wer immer noch nicht versteht, was ein bürgerrechtsbewegter Bundespräsident fordert: „Wir, die Bürger sind es, die über die Gestalt unseres Gemeinwesens entscheiden.“ Gauck wünscht sich einfach, dass die Menschen mitmachten in ihrem eigenen Land, von dem er selbst sagt: „Dieses Land ist die Heimat meiner Werte – es ist es geworden. Besonders deswegen fühle ich mich hier zugehörig, zu Hause.“

Letzter Staatsbesuch in Paris

Gauck reist in der kommenden Woche noch einmal zum Staatsbesuch nach Paris. Frankreich, der geübte und bewährte Partner Deutschlands. Seine erste Auslandsreise als Bundespräsident hatte ihn im März 2012 ins Nachbarland im Osten, nach Polen geführt. Gauck schickt jetzt, da seine Tage in Schloss Bellevue sich dem Ende zuneigen, nochmals eine Mahnung an die Gemeinschaft in Europa: „Die Bindekraft der Europäischen Union hat deutlich nachgelassen, Zweifel im Inneren werden auch von außen geschürt. Erstmals will sogar ein Staat die Union verlassen.“

Deutschland muss wie der Rest der EU mit dem Brexit zurechtkommen. Dabei müsse man auch einige „sich autoritär gebende Staatenlenker“ im Auge haben, die eigene Regeln diktierten, anerkannte Normen internationaler Zusammenarbeit ihrer Machtpolitik unterordneten und eigene Ordnungen schafften.

Gauck wird sich ohne Mühe an seinen Türkei-Besuch im April 2014 erinnern, als er in einer Rede in Ankara Internetzensur, Justizreform und andere Eingriffe in den Rechtsstaat scharf kritisierte. Der damalige türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan reagierte empört und warf Gauck „Einmischung in innere Angelegenheiten“ vor. Erdogan: „Anscheinend denkt er immer noch, er wäre ein Priester.“ Gauck hielt dagegen: „Ich habe mir erlaubt, das zu tun, was ich immer tue. Nämlich die kritischen Themen, die in einer Gesellschaft diskutiert werden, aufzunehmen. Das ist normal unter Freunden.“

Unüberhörbare Sorgen zu Trump

Aber bitte, Gauck macht sich Sorgen um die Zukunft, wenn beispielsweise an der Staatsspitze der Weltmacht USA ein Wechsel ansteht. An diesem Freitag kommt mit Donald Trump der 45. US-Präsident ins Amt. Und fast hört es sich so an, als fragte Gauck in dieser Dreiviertelstunde seiner Bilanzrede auch: „Wie sollen sie aussehen, die USA?“ Der Bundespräsident nennt kein einziges Mal den Namen von Trump, aber seine Sorgen darüber, was Trump womöglich an Unordnung anrichten könnte, sind unüberhörbar: „Mit dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten stehen wir vor Herausforderungen für die internationale Ordnung und die transatlantischen Beziehungen, besonders die Nato.“

Deutschland und die meisten anderen europäischen Staaten seien überzeugte Mitglieder der Allianz, „deren Bedeutung angesichts der augenblicklichen Entwicklung nicht ab-, sondern wieder zunimmt.“ Und bitte, auch die Kritiker der EU mögen herhören – trotz mancher Selbstzweifel: „Mit der Europäischen Union ist ein einzigartiges Friedens- und Wohlstandsprojekt entstanden.“

Plädoyer für mehr Offenheit

Gauck wünscht sich ein Deutschland, das sich der Verantwortung stellt, das Führung übernimmt, das zu Veränderungen bereit ist. Hat er gerade „Ruck“ gesagt? Nein, hat er nicht. Aber irgendwie hat es doch geruckt im großen Saal von Schloss Bellevue. Deutschland könne zusehen und Schadensbegrenzung betreiben. Oder aber Deutschland könne „mehr Gestaltungswillen als bisher für das größere Ganze aufbringen. Wir können? Nein, wir müssen!“ Rückkehr ins Nationale, Abwehr vom Fremden und Freihandel, ist nicht die Welt, nicht das Europa oder Deutschland, das sich Gauck nach fünf Jahren als Bundespräsident wünscht.

Er plädiert für Offenheit der Zugewanderten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, sowie der Deutschen gegenüber den (zugewanderten) Minderheiten. Was ist wahr, was ist falsch? „Vor allem in den sozialen Netzwerken wird fast grenzenlos gelogen, beschimpft, verletzt.“

Gauck ist da ganz überzeugter Demokrat: „Die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten. Es zählt nicht die Herkunft, sondern die Haltung.“

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