GA-Serie "Macht und Mehrheit" Mit der Debattenkultur in Deutschland geht es bergab

Wir leben mit Hass rund um die Uhr und sieben Tage die Woche. Soziale Medien sind Verstärker von Hetze und Häme. Dem Phänomen liegt eine große Verunsicherung zugrunde.

Ein Ausweis von Bildung sei die Fähigkeit, fast alles anhören zu können, ohne die Ruhe zu verlieren oder das Selbstvertrauen, hat der amerikanische Autor Robert Frost (1874-1963) einmal festgestellt. Im Original: „Education is the ability to listen to almost anything without losing your temper or your self-confidence.“

Frost würde sich in unserer Gegenwart nicht mehr zurechtfinden. Sein Bildungsbegriff findet längst keine Entsprechung in der Wirklichkeit mehr. Mit einer Debattenkultur, wie sie der amerikanische Poet postuliert hat, geht es rapide bergab. Die Bereitschaft, andere Meinungen gelten zu lassen, verschwindet. Ein Beispiel von vielen, das Bundestagspräsident Norbert Lammert öffentlich gemacht hat. Die Vizepräsidentin des Bundestages Claudia Roth (Grüne), so Lammert 2016, melde der Staatsanwaltschaft pro Woche drei oder vier Schmähungen, Drohungen oder Ausbrüche von blankem Hass – die meisten gingen zu den Akten.

„Nicht nur bei ihr häuften sich neben den Stapeln mit groben Beleidigungen die knappen Mitteilungen der Staatsanwaltschaft über die Einstellung der Verfahren“, führte der Bundestagspräsident aus. Diffuse Drohungen wie „Fühl Dich nicht zu sicher“, es gebe „nur eine Person, welche ich mit Vergnügen ins Jenseits befördern würde“, oder „Wir können jederzeit zuschlagen“ seien indes nicht strafbar. Auch die Aufforderung „Sie soll an die Wand gestellt und erschossen werden“ bleibe strafrechtlich folgenlos, bilanzierte Lammert. Schwer für die Opfer solcher Hassbotschaften, nicht die Ruhe zu verlieren.

Auch der umstrittene Thilo Sarrazin ist ein Opfer verbaler Gewalt. Im Jahr 2012 polemisierte die Journalistin Mely Kiyak in der „Frankfurter Rundschau“ gegen den Autor Sarrazin – für Kiyak war der Verfasser des Buches „Deutschland schafft sich ab“ eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“. Sie distanzierte sich später von diesem Sprachbild. Sie habe nicht gewusst, dass Sarrazin an einer halbseitigen Gesichtslähmung leide.

Manchmal nur noch zum Gruseln

Letztes Beispiel: Kurz nach Anis Amris islamistischem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 setzte der nordrhein-westfälische Chef der Alternative für Deutschland (AfD), Marcus Pretzell, unbeeindruckt von der Faktenlage eine ungeheuerliche Behauptung in die Welt: „Es sind Merkels Tote!“ Auf diesem zum Gruseln einladenden Niveau ist die Diskussionskultur in Deutschland angekommen.

Wir erleben einen emotionalen Klimawandel in der Gesellschaft. „Wellen der Feindseligkeit, Aufhetzung und Desinformation gehen um die Welt, Shitstorms, massenhafte Bedrohungen und haltlose Behauptungen verbreiten sich viral“, hat Georg Franck festgestellt. Er ist Professor für digitale Methoden in Architektur und Raumplanung an der Universität Wien und Autor des Buches „Die Ökonomie der Aufmerksamkeit“.

"Es gibt keine Filter mehr"

Immer wenn man denkt, das Niveau öffentlicher Diskussionen in Deutschland könne nicht weiter sinken, liefert die Wirklichkeit deprimierende Gegenbeweise. Wir leben mit Hass rund um die Uhr, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Der englische Historiker Timothy Garton Ash hat soziale Netzwerke 2016 als größte Kloake der Menschheitsgeschichte beschrieben. Sie sind effiziente Kanäle für Hetze und Häme. „Es gibt keine Filter mehr“, analysierte der Medienwissenschaftler Norbert Bolz in der Zeitschrift „Cicero“. Das Internet habe den Verlierern dieser Welt zum ersten Mal die Chance eröffnet, sich zu organisieren und loszupöbeln. Das Gemeinschaftsgefühl diene dabei als Verstärker der Affekte. „Hass ist nämlich ansteckend“, konstatierte Bolz.

Die Flüchtlingskrise hat seit September 2015 maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Ton der öffentlichen Debatte signifikant verschärft. Die Vehemenz der Auseinandersetzung resultiert aus einer stetig gewachsenen Verunsicherung. Die Selbstgewissheit derjenigen, die vom Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft nicht lassen wollen, droht sich aufzulösen. Was, wenn die Vision den Realitätstest nicht besteht? Das führt dazu, unbequeme Meinungen reflexhaft mit dem Vorwurf des Populismus respektive der Islamophobie zu belegen.

Neues Interesse am politischen Diskurs

Auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich mit ihrer Skepsis von den politischen Eliten und von manchen Medien nicht ernstgenommen fühlen. Sie glauben nicht an die durchschlagende Wirkung des inflationär gebrauchten Zauberwortes Integration. Die Skepsis ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im rechten Milieu äußert sie sich nur am lautesten. Das führt dort zu sprachlichen Exzessen, unappetitlichen und manchmal menschenverachtenden Parolen.

Das linke Londoner Wochenblatt „New Statesman“ hat in der deutschen Lust, abweichende Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen, ohne sich argumentativ mit ihnen auseinanderzusetzen, das Merkmal eines sehr „eingeschränkten und elitären“ politischen Systems entdeckt, in dem das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gestört sei.

Immerhin haben die Entwicklungen frischen Wind ins lange erlahmte Interesse am politischen Diskurs gebracht. Dass seit einer Weile leidenschaftlich und differenziert über dieses Thema geschrieben und gesprochen wird, stimmt hoffnungsvoll. Viele haben erkannt: Es lohnt sich, für demokratische Werte und eine würdevolle Debattenkultur zu kämpfen.

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