Kommentar zur Nahles-Wahl Mission Erneuerung

Meinung | Wiesbaden · Andrea Nahles ist mit 66,35 Prozent Zustimmung zur ersten Frau an der Spitze der SPD gewählt worden. Das ist bestenfalls einen Vertrauensbeweis auf Probe, findet unser Korrespondent Holger Möhle.

Die SPD erneuert sich – wieder einmal. Geschichte wiederholt sich nicht? Bereits 2009 hatte ein Vorsitzender namens Sigmar Gabriel die Mission Erneuerung ausgerufen. Aufgeprallt bei seinerzeit 23,0 Prozent auf den damals historischen Tiefstand wollte Gabriel die SPD mit neuem Schwung, neuen Inhalten stabilisieren, die Mitglieder stärker beteiligen, Diskussionen der Partei auch für Nicht-Mitglieder öffnen. Die SPD sollte Polit-Werkstatt werden, wieder raus ins Leben gehen, ein Ort sein, „wo es riecht und gelegentlich auch stinkt“, wie Gabriel damals den Erneuerungspfad beschrieb.

Mit der Erneuerung hat es nicht so funktioniert wie erhofft. Der SPD geht es so schlecht wie nie. Sie ist eine Volkspartei, von der sich das Volk mehr und mehr abwendet. Ihre Zustimmungswerte liegen im Bund aktuell noch bei 18 Prozent. In einigen ostdeutschen Bundesländern ist die SPD mittlerweile nur noch vierte Kraft – hinter CDU, Linken und AfD. Vor allem: Es ist weiter Luft nach unten (aber auch nach oben). Der Patient SPD ist zwar kein Fall für die Intensivstation, aber die Lage ist auch so ernst genug.

Achteinhalb Jahre nach Gabriel, einem glücklosen Intermezzo von Martin Schulz als Parteichef versucht die SPD ab sofort unter der Führung von Andrea Nahles ihre nächste Erneuerungsetappe. Nahles ist die erste Frau an der SPD-Spitze in der 155-jährigen Geschichte der Partei – und zugleich auch die Trümmerfrau der deutschen Sozialdemokratie. Sie muss der SPD wieder jenen Mut machen, den diese Partei braucht, will sie eines Tages wieder den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin stellen. Würde sich die SPD von diesem Ziel verabschieden, gäbe sie damit auch ihren Anspruch auf, Volkspartei zu sein.

Die SPD in ihrer gegenwärtigen Lage ist auch auf der Suche nach sich selbst. In diese dritte Groko unter der Führung von Angela Merkel ist die SPD vor allem aus staatspolitischer Vernunft gegangen, mehr noch getrieben worden. Die Turbulenzen der Groko-Verhandlungen haben Martin Schulz erst den Vorsitz, dann das Außenamt gekostet.

Nahles startet nach der Kungelei mit Schulz mit einigen Kratzern ins höchste Parteiamt, wie ihr auch die Gegenkandidatur der Flensburger Oberbürgermeisterin Simone Lange gezeigt hat. 100 Prozent Zustimmung wären nach der Wahl von Schulz sicher ein Fluch gewesen. 66,3 Prozent wiederum bedeuten bestenfalls einen Vertrauensbeweis auf Probe.

Trotzdem: Nahles wird der SPD wieder den Glauben an sich selbst zurückgeben müssen, will die deutsche Sozialdemokratie nicht wie zahlreiche europäische Schwesterparteien gar zur parlamentarischen Restgröße verkommen. Die neue Chefin bündelt mit ihrer Ämterdoppelung von Fraktions- und Parteivorsitz so viel Macht wie zuletzt Franz Müntefering. An Nahles wird bei der Frage, wer die nächste Kanzlerkandidatur der SPD bestreitet, kein Weg vorbeiführen.

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