Kommentar zum Ergebnis der Koalitionssondierungen Keine Experimente

Meinung | BERLIN · Nach 26 Stunden Klausur verkündeten die Chefs von CDU, CSU und SPD ein Ergebnis der Sondierungen. GA-Chefredakteur Helge Matthiesen kommentiert dieses als grundsolide.

Es ist ein Kompromiss und er hat die Kleinteiligkeit, den solche Verhandlungsergebnisse wohl haben müssen. Ein wenig ist zu erkennen, dass die Verhandler sich mühten, so etwas wie eine Vision in das Gründungsdokument der neuen großen Koalition zu bringen. Das ist ihnen nicht gelungen, denn genau daran fehlt es dieser Verbindung, die vor allem Teile der SPD gar nicht wollen. Hier schließen zwei Partner eine Vernunftehe, weil es eben nicht anders geht.

Das Ergebnis einer langen Nacht ist daher voller Details und grundsolide. Schließlich musste jeder etwas abbekommen, damit die eigene Anhängerschaft zufrieden sein kann. Gespart wurde nicht. Steuergeld ist vorhanden. So gibt es ein wenig Familiennachzug und ein wenig Flüchtlings-Obergrenze, ein bisschen Einwanderungsgesetz, etwas Mütterrente, Neuerungen bei der Krankenkasse, aber keine Bürgerversicherung, den Breitbandausbau, viel mehr Sicherheit und etwas mehr Geld für die Bildung, außerdem ein wenig Reform beim Soli. Gemeinsam sollen ein paar große Zukunftsthemen angepackt werden, die Pflege zum Beispiel, die marode Infrastruktur, der Klimaschutz und natürlich die Digitalisierung.

Das alles ist nicht besonders aufregend, denn es saßen drei Partner am Tisch, die seit vier Jahren zusammenarbeiten und sich und die anstehenden Themen genau kennen. Insgesamt halten sich die formulierten Ziele deutlich in der Mitte des politischen Spektrums. Zuspitzungen, wie sie bei den Jamaika-Verhandlungen das Klima zwischen den Verhandlern vergifteten, bleiben aus. Das bedient perfekt eine weit verbreitete Mentalität der Republik, abrupte Veränderungen zu meiden. Niemand wird hier überfordert.

Schulz rennt mit Schwung offene Türen ein

Grüne und FDP als Partner waren da in einigen Punkten mit mehr Sprengkraft unterwegs. Visionär ist das nicht, aber es passt vermutlich zum Zeitgeist, der ja derzeit viel von Heimat, Sicherheit und dem Wunsch nach gemütlichem Glück im stabilen Wohlstandswinkel Deutschland träumt. Dabei hat eine große Koalition eigentlich ganz andere Möglichkeiten. Die Mehrheiten sind einigermaßen klar. Sie böten die Chance für grundlegende Veränderungen, wenn man sie denn will.

Zwei Punkte weisen ein wenig nach vorn: SPD-Chef Martin Schulz rennt mit Schwung offene Türen ein, wenn er sich über den Europa-Schwerpunkt freut, den das Papier formuliert. Wenig in der deutschen Politik wird so breit von allen getragen, mit Ausnahme von AfD und Linken. Eine neue deutsche Regierung hat eben auch diese Verantwortung und muss ihr gerecht werden. Es ist richtig, wenn das deutlich formuliert wird. Begeisterung entfacht es dennoch nicht.

Interessant ist das Bemühen um eine veränderte politische Kultur zwischen Koalition, Regierung und Parlament. In den vergangenen vier Jahren hat die Bedeutung des Bundestags rapide abgenommen, weil die meisten Entscheidungen an anderer Stelle fielen. Da gab es zum Beispiel Koalitionsausschüsse, die das Grundgesetz nicht kennt, die aber wichtige Dinge beschlossen. Das verhinderte Debatten, zum Schaden der Demokratie. Viele Bürger haben inzwischen das Gefühl, in diesem Land könne nicht mehr offen diskutiert werden, weil eigentlich alle immer einer Meinung seien.

Noch haben wir keine neue Regierung

Das ist natürlich falsch. Die Unterschiede und die Alternativen sollen jetzt wieder deutlich werden, indem die Regierung das Parlament so behandeln will, wie es das Grundgesetz vorsieht. Noch ist das eine Absichtserklärung. Dass sie den Weg in die Abmachungen gefunden hat, zeigt wie unzufrieden die Akteure selbst mit den Folgen ihrer Arbeit für die Demokratie sind.

Eine neue Regierung haben wir noch nicht. Wenn sich jetzt alle Unterhändler freuen, dass sie nach 24 Stunden Sitzung ein freies Wochenende haben, denken Sie vermutlich an die anstehenden eigentlichen Koalitionsverhandlungen. Bevor es losgeht, muss Martin Schulz die SPD von den Chancen überzeugen, die das Sondierungspapier seiner Partei bietet. Seine Parteibasis murrt bereits vernehmlich. Den großen Befreiungsschlag, der die SPD zurück in die Erfolgsspur bringt, hat Schulz nicht im Gepäck. Da Neuwahlen derzeit keine echte Alternative sind, hat er dennoch eine Chance, sich durchzusetzen.Ob eine neue Regierung Merkel vier Jahre hält, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt. Es bleibt spannend in Berlin.

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