Kommentar zum Karneval Jetzt erst recht!

Meinung | Bonn · Seit dem Mittelalter sind die närrischen Tage ein Ventil fürs Volk von Venedig bis Köln, bedeuten eine kurze, rauschhafte Gegenwelt zum übrigen eher entbehrungsreichen Jahr.

Vor 25 Jahren fiel der Karneval aus. Der Golfkrieg gegen Saddam Hussein, der sich Kuwait einverleiben wollte, zwang damals das Narrenvolk zum Innehalten, Luftschlangen und Kamelle blieben im Depot. Rückblickend und aus historischer Distanz wissen wir, dass dieser fast beispiellose Akt der kollektiven karnevalistischen Enthaltsamkeit den Krieg nicht aufhalten konnte. Damals vergällte der westliche Waffengang am Golf das Feiern. Genauer: Oberbürgermeister und Spaßbremsen in den diversen Stadträten verordneten den Stopp.

Das fragwürdige Prinzip, auf Krisen mit Kasteiung zu antworten, hat sich nicht durchgesetzt, selbst nicht, als die Bedrohungen größer wurden: Terrorgefahr, kriminelle Umtriebe marodierender Diebesbanden und sexualisierte Gewalt auf der Straße ängstigen und traumatisieren heute die Narren. Deswegen aber den Rosenmontagszug abzusagen? Jetzt feiern wir erst recht!

Die Sorgen auszublenden, den schnöden Alltag Alltag sein zu lassen, den Frust mit der Obrigkeit, den Ärger über die Politik, die Furcht vor Krieg und Terror in die Zeit ab Aschermittwoch zu verschieben, mittels Frohsinn (und Alkohol) gründlich zu verdrängen, ist guter historischer Karnevalsbrauch.

Seit dem Mittelalter sind die närrischen Tage ein Ventil fürs Volk von Venedig bis Köln, bedeuten eine kurze, rauschhafte Gegenwelt zum übrigen eher entbehrungsreichen Jahr. Der einflussreiche Kulturtheoretiker Michail Michailowitsch Bachtin bezeichnete den mittelalterlichen Karneval als subversives, anti-hierarchisches Prinzip der Lachkultur des Volkes, der, von Angst befreiend, die Welt mit dem Menschen und die Menschen mit dem Einzelnen harmonisch-utopisch zusammenführte.

Das war nicht immer einfach: Während das Individuum erpicht darauf war, Grenzen zu sprengen,verbot die Ordnungsmacht immer wieder den „Mummenschanz“, das „Vermomben, Verstuppen und Vermachen“ – was immer das heißen mag –, schließlich „die Mummerey und heidnische Tobung“.

Heute ist jedoch fast alles erlaubt. Wir wollen hier aber nicht der hemmungslosen Alkoholisierung das Wort reden, Grapscher , Schläger und Pöbler aus der Verantwortung für ihre Mitmenschen entlassen. Es gibt Regeln, erst recht im Karneval 2016.

Ein Kölner Polizeisprecher gab unlängst Tipps, die überzeugen. Narr und Närrin sollen ihren Instikten vertrauen, Gefahrenmomente antizipieren, Ängste zulassen, auch Fluchtwege in Betracht ziehen. Das funktioniert natürlich nur im unteren Promille-Bereich. Was auch für die goldene Regel gilt: Denke beim Feiern auch an den Nachhauseweg. Schnapsleichen sind dankbare Opfer.

Der letzte Appell richtet sich an die Zivilcourage: Achte auf deinen Nächsten, dann kann das klappen mit Karneval 2016.

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