Kommentar zur Debattenkultur in Deutschland Ins Gespräch kommen

Meinung | Bonn · Wenn man denkt, das Niveau öffentlicher Diskussionen in Deutschland könne nicht weiter sinken, liefert die Wirklichkeit deprimierende Gegenbeweise. Es wird Zeit, dass sich die Debatten- und Streitkultur in Deutschland dem Ernst der Themen anpasst.

 2010 bedeutete eine Zäsur in der Debattenkultur. Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ – und erntete Verrisse.

2010 bedeutete eine Zäsur in der Debattenkultur. Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ – und erntete Verrisse.

Foto: dpa

Zwei Beispiele für Debattenkultur. Als der Soziologe und Migrationsforscher Ruud Koopmans im April Erkenntnisse zur Integration von Muslimen in Europa vorstellte, wurde er in deutschen Medien als Rassist und Islamfeind kritisiert. Dabei hatte der in Berlin lehrende Wissenschaftler nur die belegbare These vertreten, „dass Muslime in Europa umso besser in den Arbeitsmarkt integriert sind, je assimilierter sie sind“. Zweiter Fall: Kurz nach den Morden am Berliner Breitscheidplatz setzte der NRW-Landesvorsitzende der AfD, Marcus Pretzell, unbeeindruckt von der Faktenlage, eine ungeheuerliche Behauptung in die Welt: „Es sind Merkels Tote!“

Wenn man denkt, das Niveau öffentlicher Diskussionen in Deutschland könne nicht weiter sinken, liefert die Wirklichkeit deprimierende Gegenbeweise. 2010 bedeutete eine Zäsur in der Debattenkultur. Thilo Sarrazin veröffentlichte sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ – und erntete Verrisse. Es setzte Prügel für den Provokateur, die mediale Erregung war enorm.

Der Furor der Reflexe stand in keinem Verhältnis zum Gehalt der Reflexion. Die Schwächen des Buches über Zuwanderung und Integration, Demografie und Bevölkerungspolitik waren willkommener Vorwand, um viele andere Argumente zu ignorieren. Oder um die große Keule herauszuholen. „Nazi in Nadelstreifen“ nannte Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime Sarrazin. „Der Eindruck drängt sich auf, hier solle eine überfällige Debatte mit den bewährten Begriffen wie Rassismus und Populismus kontaminiert werden“, urteilte die in Istanbul geborene Soziologin Necla Kelek.

Den im Fall Sarrazins perfektionierten Freund-Feind-Mustern folgt bis heute am intensivsten die Diskussion über den Islam. Die Vehemenz der Auseinandersetzung resultiert aus einer stetig gewachsenen Verunsicherung. Die Selbstgewissheit jener, die vom Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft nicht lassen wollen, droht sich aufzulösen. Was, wenn die Vision den Realitätstest nicht besteht? Das führt dazu, unbequeme Meinungen wohlfeil mit dem Vorwurf des Populismus respektive der Islamophobie zu belegen.

Auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich mit ihrer Skepsis von den politischen Eliten und von manchen Medien nicht ernstgenommen fühlen. Sie glauben nicht an die durchschlagende Wirkung von Integration. Die Skepsis ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im rechten Milieu äußert sie sich nur am lautesten. Das führt dort zu sprachlichen Exzessen, unappetitlichen und manchmal menschenverachtenden Parolen.

Es wird Zeit, dass sich die Debatten- und Streitkultur in Deutschland dem Ernst der Themen anpasst. Für 2017 kann man sich nur wünschen, dass die Vernunft den Ton bestimmt. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat im Umgang mit Anhängern der AfD die richtige Richtung vorgegeben: „Wir müssen ins Gespräch kommen.“

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