Islamisches Recht in Deutschland Hält die Scharia Einzug in deutsche Gerichte?

Bonn · In Deutschland gelte das Grundgesetz und nicht die Scharia, stellte die Bundeskanzlerin fest. Ein näherer Blick auf die Praxis zeigt jedoch ein anderes Bild.

Abgehackte Hände wegen Diebstahls. Stockhiebe zur Ahndung missliebiger Artikel im Internet. Öffentliche Steinigungen von Frauen wegen Ehebruchs. Ehrenmorde, Zwangsehen, die Frau als Eigentum des Mannes. Es sind Nachrichten wie aus einer anderen Welt, die den Westen immer wieder aus islamisch geprägten Rechtssystemen erreichen. Ein Beispiel: Als das Malaysische Model Kartika Sari Dewi Shukarno 2009 an einer Hotelbar mit einem Bier erwischt wurde, sollte sie dieses Verhalten zunächst mit sechs Stockhieben "bezahlen" - eine Strafe, die nach internationalen Protesten und auf Anweisung des Sultans dann doch noch in einen dreiwöchigen Arbeitseinsatz in einem Kinderheim abgemildert wurde.

Die Schauplätze sind weit entfernt von Deutschland, etwa zehntausend Kilometer in Kartika Shukarnos Fall. Und doch rückt das Thema näher, wie zumindest Juristen in Deutschland zunehmend erfahren. Denn auch hier werden islamische Rechtsnormen der Scharia mit dem Zuzug von Migranten aus muslimisch geprägten Ländern immer häufiger zum Streitgegenstand.

Merkel: Der Islam gehört zu Deutschland

In Deutschland gelte das Grundgesetz und nicht die Scharia, stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Zuge einer der vielen Integrationsdebatten der vergangenen Jahre fest. Das klang eindeutig - von einer Kanzlerin, die bekanntlich die Position vertritt, dass "der Islam unzweifelhaft zu Deutschland gehört". Was wie ein Widerspruch erscheinen mag, beschreibt die Wirklichkeit recht treffend: Denn tatsächlich haben auch in hiesigen Gerichtssälen bestimmte Elemente der Scharia längst Einzug gehalten.

Wohlgemerkt: Es ist hier nicht das deutsche Strafrecht betroffen. Im Zivilrecht hingegen, etwa im Erbrecht oder bei Scheidungen, kann mitunter auch vor Amtsgerichten in Städtchen wie Königswinter oder Rheinbach islamisches Recht zur Anwendung kommen, sofern Beteiligte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die Schmerzgrenze verläuft dort, wo die anwendbaren Normen oder die Gerichtsentscheidung nicht mehr mit dem deutschen Recht oder mit grundlegenden Vorstellungen vereinbar sind. Als Rechtfertigungsgrund für die Züchtigung der Ehefrau etwa kann das islamische Recht - allen anderslautenden Gerüchten zum Trotz - in Deutschland nicht herhalten. Grundsätzlich jedenfalls, so muss man sagen, seit 2007 eine Frankfurter Familienrichterin einem prügelnden Marokkaner ein "Züchtigungsrecht" zugestand und die vorzeitige Scheidung ablehnte.

Anders sieht es hingegen aus, wenn es um die private Lebensführung von Einwanderern geht. Zum Tragen kommt dann das Internationale Privatrecht - indem bei Scheidungs- oder Erbrechtsfällen beispielsweise nach tunesischem oder iranischem Recht geurteilt werden kann. Genau das ist die Stelle, an der die Scharia ins Spiel kommt. Und aus dem Blickwinkel westlicher Rechtstradition zu teilweise bemerkenswerten Ergebnissen führt: So erkannten deutsche Gerichte bereits Ehen an, die in Tunesien durch zwei Stellvertreter per Handschlag geschlossen worden waren. Ein Kölner Gericht verdonnerte einen geschiedenen türkischen Ehemann dazu, seiner geschiedenen Frau 600 Golddukaten als "Brautgabe" auszuzahlen, weil es der islamische Ehevertrag so vorsah. Und bereits im Jahr 2000 lehnte das Bundessozialgericht die Klage einer aus Marokko stammenden Witwe ab, die sich weigerte, die Rente ihres Mannes mit dessen Zweitfrau zu teilen. Unter Verweis auf islamisches Recht entschieden die Richter damals zugunsten der Zweitfrau: Beide Frauen hätten Anspruch auf den gleichen Rentenanteil.

2011 machte der Fall einer Seniorin aus München Schlagzeilen: Ihr iranischer Ehemann, mit dem sie 30 Jahre verheiratet war, hatte sie als Alleinerbin eingesetzt Nach seinem Tod teilte das Amtsgericht der 67-Jährigen mit, dass ihr statt des Alleinerbes nur ein Viertel zustehe. Über den Rest konnten sich Verwandte des Mannes in Teheran freuen. Auch hier griff das Prinzip des internationalen Privatrechts: Stirbt ein Ehepartner, der keinen deutschen Pass besitzt, gilt das Erbrecht seines Herkunftslandes - in diesem Fall das iranisch-islamische Recht.

Wo es mithin eine "multikulturelle Jurisdiktion" gibt, mag auch der Gedanke an eine entsprechende Exekutive nahe liegen. Doch die Scharia muss, wenngleich sich das Vertreter eines politischen Islam anders wünschen, in deutschen Strafprozessen und beim hiesigen Ordnungsrecht draußen bleiben.

Auftritte der "Scharia-Polizei" im Rheinland

In Erinnerung bleibt in diesem Zusammenhang lediglich die realsatirisch anmutende Aktion von Salafisten um den Prediger Sven Lau, die vor eineinhalb Jahren als "Scharia-Polizei" durch mehrere Städte im Rheinland zogen. Nach Patrouillen in Wuppertal und Köln führten die bärtigen Aktivisten an mindestens einem Abend auch in Bonn Kon-trollgänge durch und marschierten in ihren Phantasieuniformen aus orangefarbenen Westen munter und selbstbewusst über den Bonner Marktplatz. Moslems, so ihre Botschaft, sollen sich an die Verhaltensregeln des Koran halten: kein Alkohol, kein Glücksspiel, keine Musik und Konzerte, keine Pornografie und Prostitution, keine Drogen.

Das Echo aus den staatlichen Institutionen war zwiespältig: Einerseits reagierte die "echte" Exekutive mit nach Entschlossenheit klingenden Worten; allen voran Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der erklärte, die Scharia werde in Deutschland nicht geduldet. Andererseits sah das Landgericht Wuppertal in der Aktion zunächst nichts Strafbares und lehnte eine Prozesseröffnung ab. In zweiter Instanz wurde nach einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft kürzlich anders entschieden, und so soll acht der rheinischen "Scharia-Polizisten" nun doch der Prozess gemacht werden. Laut Oberlandesgericht haben die Angeklagten durch die Westen ihre Zustimmung zur Scharia zum Ausdruck gebracht und durch den Zusatz "Police" auch ihren Willen zur Durchsetzung bekundet. Ansatzpunkt für den Hebel der Rechtspflege ist allerdings nicht das Aufschwingen zur Religions-polizei - sondern ein möglicher Verstoß gegen das Uniformverbot im Versammlungsgesetz.

Prügelstrafen auf offener Straße

Was in Bonn und Wuppertal noch skurrile Züge trug, ist in anderen europäischen Städten schon in Gewalt ausgeartet. In Wien gingen islamistische Sittenwächter aus Tsche-tschenien vor Wochen in einem Einkaufszentrum gegen eine Familie vor und schlugen den Vater und einen unbeteiligten Zeugen krankenhausreif. Grund: Die Mutter war mit ihren Töchtern und deren Freundinnen noch nach 23 Uhr in einer Diskothek unterwegs gewesen. Auch in London hat eine "Muslim Patrol" wegen spontan vollstreckter Prügelstrafen auf offener Straße bereits mehrfach von sich reden gemacht. Womöglich waren es Gedanken an Szenen wie diese, die den Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger bereits vor über 20 Jahren vor dem "molekularen Bürgerkrieg" warnen ließen, der auf die Transformation der staatlichen Ordnung abziele.

Ein anderes, mindestens ebenso unübersichtliches Feld steht zumindest indirekt im Zusammenhang mit tradierten islamischen Rechtspraktiken: die Welt der islamischen Friedensrichter, die in Berliner, Bremer oder Essener Hinterhöfen Konflikte lösen - oder eben auch "Recht sprechen". Sofern dies in einer (zulässigen) vorprozessualen Form der Streitschlichtung geschieht, kann das bei zivilen Konflikten als "Privatsache" angesehen werden. Eine andere Qualität gewinnt der Sachverhalt, wenn strafrechtliche Offizialdelikte "unter sich geregelt" oder Familienmitglieder, Zeugen und Anwälte so lange bearbeitet werden, bis ein anberaumter Prozess doch platzt oder im Sande verläuft, weil sich niemand mehr an das Geschehen erinnern kann.

Berichte über derlei Situationen sind zuletzt in Berlin diskutiert worden, als die Polizei bei einer Großrazzia Mitglieder eines libanesischen Clans festnahm. Trotz mehrerer Versuche auf Bundes- und Länderebene in den letzten Jahren ist bis heute vollkommen unklar, in welchen Dimensionen sich das zuweilen "Paralleljustiz" genannte Phänomen eigentlich bewegt.

"Illegale Parallel-justiz werden wir nicht dulden"

Ausführlich haben sich dem Thema auch die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig oder der Berliner Islamwissenschaftler Ralph Ghadban gewidmet. Ausführlich beschreibt letzterer in seinen Publikationen eine Unterhöhlung des staatlichen Strafmonopols - etwa in Gestalt der Strafvereitelung durch systematische Beeinflussung oder Erpressung von Zeugen. Aber offenbar sieht selbst die Bundesregierung Handlungsbedarf: "Wir wollen das Rechtsmonopol des Staates stärken. Illegale Parallel-justiz werden wir nicht dulden", heißt es im rot-grünen Koalitionsvertrag von 2013. Dass es dieser Klarstellung überhaupt bedurfte, hat seinen Hintergrund.

Vorangegangen war eine Debatte, für die der damalige rheinland-pfälzische Justizminister Jochen Hartloff (SPD) 2012 den Anlass bot: Unisono mit dem Tübinger Islamwissenschaftler Omar Hamdan hatte er erklärt, er könne sich außergerichtliche Schiedsgerichte auf Basis islamischen Rechts in Deutschland vorstellen - ähnlich, wie es sie in Großbritannien seit 2007 in Form des offiziellen "Muslim Arbitration Tribunal" für Erbschafts-, Familien- und Handelsstreitigkeiten gibt. Und (überspitzt gesagt) analog zum deutschen Kirchenrecht, dessen Regelung innerer Angelegenheiten - darunter das kirchliche Ehe- und Arbeitsrecht - sogar im Grundgesetz geregelt ist.

Die Empörung gerade von konservativer Seite war groß. Beim Gewaltmonopol des Staates gelte die "Null-Toleranz-Linie", sagte etwa der CDU-Politiker Thomas Strobl. In Äußerungen wie dieser schwingt vermutlich die Sorge mit: Wo der Scharia in einzelnen Lebensbereichen eine partielle Gültigkeit verschafft wird - etwa bei Erbschaftsangelegenheiten - könnten bald auch andere Rechtsgebiete unter einen Rechtfertigungsdruck geraten.

Keine Beschwerden bei der Polizei

Entspannter sieht es der Erlanger Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe. Sofern Verträge auf Grundlage der Scharia für den deutschen Staat erträglich seien, könnte diese Form der Rechtsprechung auch ein Mittel sein, einer islamischen Paralleljustiz vorzubeugen, denn: So könne Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat bei manchen Migranten dadurch gestärkt werden, dass man einerseits ihre kulturellen Kontexte berücksichtigt und andererseits die Grundlagen europäischer Rechtsordnungen erklärt. Mit einem Hinweis stellt jedoch auch Rohe infrage, ob eine weitere Etablierung der Scharia in Deutschland sinnvoll erscheint: Denn immerhin stammten die meisten Moslems in Deutschland aus der Türkei. Die aber hat sich 1926 von einer Scharia-Gesetzgebung klar distanziert, indem sie das Schweizer Zivilgesetzbuch übernahm. Somit würden Scharia-Gerichte der Rechtskultur der größten deutschen Minderheit überhaupt nicht gerecht.

Schließlich gibt es noch, abseits der Rechtsnormen, die "weichen", sozialen Faktoren der schariatreuen Lebensart: "Halal"-Geschäfte, arabische Frauenärzte, Kitas ohne Schweinefleisch oder "Burkinis" für den Schwimmunterricht. Was für sich genommen wie Kleinigkeiten anmutet, ruft neben Toleranz oder Gleichgültigkeit auch Widerspruch hervor: Am Ende der Entwicklung, so eine verbreitete Sorge, könne eine islamisch geprägte Gesellschaft stehen. Besonders die regen Aktivitäten salafistischer Gruppierungen nähren die Bedenken, der Islam könne in einer steinzeitlichen Lesart zunehmend nach Deutschland importiert werden.

So weit ist es zumindest nach Einschätzung der Bonner Polizei allerdings nicht. "Wir haben weder im Bereich Staatsschutz, noch auf dem Gebiet der Allgemeinkriminalität Anhaltspunkte dafür, dass es in unserem Aufgabenbereich eine Paralleljustiz gibt", sagt der Sprecher der Bonner Polizei, Robert Scholten. Auch sei es seines Wissens noch nicht vorgekommen, dass sich jemand bei der Polizei beschwert habe, weil er mit der Entscheidung eines inoffiziellen "Richters" unzufrieden gewesen sei.

Prozessuale Begegnung mit Zweit- und Drittfrauen

So weit reiche das Vertrauen in staatliche Institutionen in solchen Milieus dann mutmaßlich ohnehin nicht, vermutet Scholten. Durchaus komme es jedoch vor, dass hinter Gewaltdelikten eine Form der "Maßregelung" durch rivalisierende Gruppen stehe. Von "Bestrafungen" aus ideologischen Gründen wisse man jedoch nichts. Einen Zugang zu einer derartigen Szene hat die Polizei aber offensichtlich nicht - was zwei Gründe haben kann: Entweder sie ist schlichtweg nicht existent; oder das Milieu agiert sehr geschlossen "privat".

Auch Coletta Manemann, der Integrationsbeauftragten der Stadt Bonn, ist von den Aktivitäten islamischer "Friedensrichter" in Bonn nichts bekannt, wie sie auf Anfrage erklärt. Dass es unter Ausländern und Migranten Personen gibt, die wie eine Art Schiedsmann Streitigkeiten schlichten, hält sie zwar für realistisch. "Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass es sich um Leute handelt, die sich über die deutschen Gesetze stellen", so Manemann. Denn nicht bei jedem Konflikt seien automatisch Straf- oder Zivilrecht berührt. Und wenn im kriminellen Milieu Paralleljustiz praktiziert werde, so liege es in der Natur der Sache, dass davon nichts an die Öffentlichkeit dringt.

Sobald Geschlechterbeziehungen ins Spiel kommen, sieht es hingegen oft anders aus. Dass Paare "nach islamischem Recht miteinander verheiratet" seien, ist in jüngster Zeit - nicht nur vor Familienrichtern - immer häufiger zu hören. In diesem Zusammenhang weist die Berliner Politikwissenschaftlerin Dorothee Dienstbühl darauf hin, dass muslimische Männer eigentlich erst mit der Abschaffung des Ehestandsgesetzes, das der religiösen eine staatliche Eheschließung voransetzte, und durch Sozialleistungen in die Lage versetzt wurden, die von der Scharia erlaubte Mehrehe in Deutschland leben zu können.

Deren behördliche Akzeptanz wird sichtbar, wenn es etwa um Prozesse wegen Terrorverdachts gegen Salafisten geht: Auch höchste deutsche Gerichte machen sich inzwischen die Formulierung zu eigen, die Betreffenden seien nach islamischem Recht "verheiratet". Längst ist die prozessuale Begegnung mit Zweit- oder Drittfrauen keine Seltenheit mehr. Den Eindruck hat auch Coletta Manemann: "Meine Wahrnehmung ist, dass es das gibt", sagt sie und ergänzt: "Zuweilen geht der Wunsch auch von den Frauen aus, weil sie sich einen Status wünschen, der muslimisch anerkannt ist." Das meiste zu diesem Thema kenne sie nur aus den Medien.

Vielleicht ist die ungleich höhere Betroffenheit von Frauen auch ein Grund dafür, dass es vor allem muslimische Frauen sind, die zuletzt in Deutschland gegen die Scharia Stellung beziehen. Neben der Autorin Necla Kelek, der Anwältin Seyran Ates und der Journalistin Duzen Tekkal hat sich zuletzt etwa die unter Pseudonym schreibende Sabatina James zu Wort gemeldet. Als sie sich angesichts einer drohenden Zwangsverheiratung öffentlich vom islamischen Glauben lossagte, erhielt sie Morddrohungen aus ihrer eigenen Familie. Dem deutschen Staat wirft sie im Umgang mit muslimischen Verbänden eine "schockierende Ignoranz" vor. In ihrem jüngsten Buch warnt sie eindringlich vor dem fundamentalistischen Islam: "In diesen Gruppen gilt die Frau als Eigentum des Mannes. Das Individuum spielt keine Rolle".

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