Bilanz der Aufarbeitung Gegen die Schweigemauer

BERLIN · Fünf Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchsskandals in Deutschland haben der Missbrauchsbeauftragter und die Opfer nun die Bilanz der Aufarbeitung vorgelegt.

 Von der Regierung beauftragt: Johannes-Wilhelm Rörig kümmert sich um die Aufarbeitung von Kindesmissbrauch. FOTO: DPA

Von der Regierung beauftragt: Johannes-Wilhelm Rörig kümmert sich um die Aufarbeitung von Kindesmissbrauch. FOTO: DPA

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Matthias Katsch wartet seit 24 Jahren auf Antwort. Doch der Vatikan schweigt und der Jesuitenorden, an dessen Berliner Canisius-Kolleg Katsch in den 70er Jahren Schüler war, ebenfalls. Katsch hat seinen Fall 1991 gemeldet, nachdem er über Jahre Missbrauchsopfer der beiden Haupttäter des Canisius-Kollegs war. Aber es gibt Hoffnung auf eine Wende aus eigener Kraft: Denn seit 2010 haben Katsch, heute Managementtrainer, Adrian Koerfer, einst im pädosexuellen System der Odenwaldschule gefangen, und Anselm Kohn, früher geistlichen Pädophilen der evangelischen Nordkirche in Ahrensburg ausgeliefert, mehr als ihre drei Stimmen.

Katsch, Koerfer und Kohn sitzen in der Bundespressekonferenz und erzählen, dass sich das Bewusstsein in der Öffentlichkeit zum sexuellen Kindesmissbrauch durch die breite Debatte der vergangenen Jahre gewandelt habe, die Kirche zwischen ihren Worten und Taten aber immer noch eine tiefe Kluft erkennen lasse. Koerfer schont die Täter und ihre schweigenden Mitwisser nicht: "Kindesmissbrauch ist so dramatisch aktuell wie die Verbrechen der Boko Haram, des sogenannten Islamischen Staates, der Taliban. Nur passiert alles hier viel lautloser."

Neben den drei Missbrauchsopfern sitzt der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig. Der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, der über Jahrzehnte hinter Mauern bestimmter Erziehungsanstalten möglich war, wühlte, als er vor fünf Jahren bekannt wurde, die Republik wach. Rörig sagt, bis 2010 habe es "zu oft Verharmlosung und Vertuschung" gegeben. Seither seien die Sensibilität in Kitas, Sportvereinen, Schulen und Kirchengemeinden gewachsen, das Strafrecht verschärft und Verjährungsfristen verlängert worden. Doch Rörig will nicht das Bild einer geheilten Welt malen: "Dies alles darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt noch immer nicht gelebter Alltag ist."

Pater Klaus Mertes, ehemaliger Leiter der Berliner Jesuitenschule Canisius-Kolleg, sieht den größten Gewinn seit 2010 darin, dass die Sprachlosigkeit bei Opfern, Mitwissern und auch bei Tätern aufgebrochen worden sei. Mertes hatte im Januar 2010 den Missbrauch durch Geistliche öffentlich gemacht, nachdem sich drei missbrauchte Altschüler an ihn gewandt hatten. Mertes spricht sich für "unabhängige Aufklärungsinstanzen" aus und dafür, Anerkennungszahlungen, Schmerzensgelder und Entschädigung zu klären. Nach den Worten der einstigen Schüler Katsch, Koerfer und Kohn versucht der Jesuitenorden Missbrauchsopfer mit 5000 Euro abzufinden, die katholische Kirche mit bis zu 5000 Euro. Katsch verlangt eine Untergrenze von mindestens 25 000 Euro, Kohn fordert eine Summe, die "schmerzt".

Um die weiter schleppende Aufarbeitung voranzutreiben, soll ab 2016 eine Unabhängige Kommission sexuellen Kindesmissbrauch untersuchen. Dazu bringen die Koalitionsfraktionen von Union und SPD am Freitag einen Antrag im Bundestag ein.

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