"Nicht gekanntes Maß an Verlogenheit" Gabriel greift Union und Merkel nach G20-Krawallen frontal an

Hamburg/Berlin · Nach den G20-Krawallen hielten sich Union und SPD auf Bundesebene mit persönlichen Schuldzuweisungen bisher zurück. Nun kommt Vizekanzler Gabriel und poltert gegen den Koalitionspartner - und Merkel. Der Ton ist ungewöhnlich.

 Polizeikräfte setzen im Schanzenviertel Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.

Polizeikräfte setzen im Schanzenviertel Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.

Foto: Axel Heimken

Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) geht in der Debatte über die G20-Krawalle auf Konfrontation zum Koalitionspartner und greift Kanzlerin Angela Merkel (CDU) offen an. Gabriel warf der Union am Dienstag „ein bisher nicht gekanntes Maß an Verlogenheit“ vor. Den Zeitungen der Funke Mediengruppe sagte er, wer den Rückzug des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) fordere, der müsse auch Merkels Rücktritt verlangen. Der Vizekanzler sagte, Merkel trage die Verantwortung für die Wahl des Gipfelorts. Sie habe damit das „heimliche Ziel“ der Selbstinszenierung kurz vor der Bundestagswahl verfolgt. Auch politisch nannte er den Gipfel einen „totalen Fehlschlag“. Die CSU kritisierte das als „flegelhaften Tiefschlag“.

Merkel reagierte gelassen auf Gabriels Attacke. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Essen sagte die CDU-Vorsitzende am Abend in Essen, sie wolle die große Koalition bis zur Wahl am 24. September zusammenhalten. Sie ergänzte: „Ehrlich gesagt, ich habe mich gefreut, dass der Außenminister Sigmar Gabriel mich begleitet hat nach Hamburg, dass er die Außenminister aus verschiedenen Ländern getroffen hat, dass er an verschiedenen Gesprächen unter anderem mit dem amerikanischen Präsidenten teilgenommen hat und ich glaube, das hat mit zum Erfolg dieses Gipfels beigetragen.“

Rund um den G20-Gipfel - das Treffen der großen Wirtschaftsmächte - war es am Wochenende in Hamburg zu heftigen Ausschreitungen gekommen. Gewalttäter verwüsteten ganze Straßenzüge, zündeten Autos an und plünderten Geschäfte. 476 Polizisten wurden verletzt.

Gabriel poltert gegen Koalitionspartner

Scholz ist seitdem heftiger Kritik ausgesetzt. Dem Bürgermeister wird vorgeworfen, er habe die Gefahren unterschätzt, verharmlost und nicht ausreichend für Sicherheit gesorgt. Aus der Hamburger CDU kamen Rücktrittsforderungen an Scholz. Die Bundes-CDU schloss sich dem ausdrücklich nicht an. Schließlich war die CDU-Chefin, Kanzlerin Merkel, Gastgeberin des internationalen Gipfels.

Gabriel polterte nun derbe gegen den Koalitionspartner. Der frühere SPD-Chef warf der Union vor, ein „doppelzüngiges Schwarze-Peter-Spiel“ zu betreiben. Scholz werde von Bundespolitikern der Union wie Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) in Schutz genommen, während die CDU auf Landesebene seinen Rücktritt fordere. Dies sei „infamer und böser Wahlkampf“. Dies Vorgehen sei geeignet, „die politische Kultur auf viele Jahre hin zu vergiften“.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU), spottete über die Verbal-Attacke seines Kabinettskollegen. Beim Kurznachrichtendienst Twitter schrieb Gröhe: „pure Panik pöbelt peinlich!“

Scharfe Zurückweisung aus Unionskreisen

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer wies die Angriffe ebenfalls scharf zurück. „Gabriel sind die Sicherungen durchgebrannt“, sagte Scheuer der „Bild“-Zeitung (Mittwoch). Die Äußerungen seien ein „flegelhafter Tiefschlag eines wahlkämpfenden Gabriel, der die Nerven verloren hat“. Gabriel selbst sei Scholz vor dem Gipfel in den Rücken gefallen und habe ihn danach zum Abschuss freigegeben, „und jetzt sucht er die Schuld bei anderen“. Gabriel hatte kurz vor dem Start des G20-Gipfels gemeinsam mit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz dafür plädiert, diese Treffen nur noch in New York abzuhalten.

Den Gipfel mitten in einer Großstadt zu veranstalten - noch dazu in einer Stadt mit einer starken linken Szene - sorgt seit längerem für Kritik. Zentrum der linksautonomen Szene ist die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel, die auch hinter der „Welcome to Hell“-Demonstration stand, bei der es am Donnerstagabend schon vor Beginn des G20-Gipfels schwere Krawalle gegeben hatte.

Führende CDU-Politiker verlangten eine Räumung solcher linksautonomer Zentren. Generalsekretär Peter Tauber sagte im hessischen Bad Orb: „Die Rote Flora gehört aus meiner Sicht geschlossen.“ Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mahnte: „So etwas wie die Rote Flora, besetzte Häuser in Berlin und so etwas, was es in Connewitz in Leipzig gibt, kann man nicht hinnehmen." Scholz hat die Existenz des Hamburger Zentrums bereits infrage gestellt, sich aber gegen einen „Schnellschuss“ ausgesprochen.

Scholz will Regierungserklärung abgeben

Während CDU und AfD in Bund und Land eine Schließung der Roten Flora verlangen, die FDP „linksextremistische Strukturen“ austrocknen will und auch SPD und Grüne Veränderungen fordern, lehnt die Linke ein Aus für das Autonomen-Zentrum ab. Auch Experten warnen: „Das würde einen massiven Kampf auslösen“, sagte etwa der Kriminologe Christian Pfeiffer der „Passauer Neuen Presse“.

Aktivisten der Roten Flora halten die Räumungs-Forderungen für ein Ablenkungsmanöver. „Es ist offensichtlich, dass durch die Debatte all die Eskalationen der Polizei und Grundrechtsverletzungen vergessen gemacht werden sollen und vor allem die regierende SPD von ihrem eigenen politischen Versagen ablenken will“, sagte Flora-Sprecher Andreas Blechschmidt der Deutschen Presse-Agentur.

Scholz will an diesem Mittwoch in der Hamburgischen Bürgerschaft eine Regierungserklärung zu den Krawallen und zum Ablauf des Gipfels abgeben. Die Rücktrittsforderungen gegen ihn wies er mehrfach zurück.

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