Verbrechen in NRW Die große Verunsicherung

Bonn · Viele Menschen in NRW fürchten, Opfer eines Verbrechens zu werden. Dabei gehen bei vielen Delikten die Zahlen zurück. Doch bedrohliche Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015 hinterlassen Spuren.

Als in der Nacht vom 31.12.2015 zum 1.1.2016 vor dem Kölner Hautbahnhof alle Dämme brachen und ein Mob von Hunderten meist nordafrikanischen jungen Männern Hunderte Frauen belästigte und bestahl, gab es neben den Hunderten Opfern einen schweren Kollateralschaden: das Sicherheitsgefühl von Menschen im ganzen Land. Die Machtlosigkeit der Polizei, die Schutzlosigkeit von Bürgern gegenüber dem Tätermob – bis heute sind die Vorgänge der Silvesternacht öffentliches und politisches Dauerthema. Und werden es bleiben, denn in der zurückliegenden Silvesternacht deutete sich an, dass sich die Vorkommnisse wiederholen können.

Doch wie beim Thema Kriminalität Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinanderklaffen können, zeigt eine Studie eines Forschungsteams um den Bochumer Kriminologen Thomas Feltes. Ergebnis der Untersuchung: Die Menschen neigen dazu, die Bedrohung durch das Verbrechen zu überschätzen, und zwar um ein Vielfaches.

19 Prozent der Personen, die die Forscher in Bochum befragten, waren überzeugt, sie würden in den kommenden zwölf Monaten Opfer eines Raubüberfalles. Dabei war in den zwölf Monaten davor nur ein Bruchteil der Befragten (0,3 Prozent) tatsächlich überfallen worden. Die Zahl der Raubüberfälle geht zudem seit Jahren zurück, wie die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt. Dennoch hatten 80 Prozent der Befragten den Eindruck, dass es im vergangenen Jahr mehr Raubüberfälle gegeben habe.

Zahl der Einbrüche gestiegen

Auch bei Vergewaltigungen oder Gewaltverbrechen insgesamt registriert die Polizei seit Jahren sinkende Zahlen. Deutlich zugenommen hat dagegen zeitweise die Zahl der Einbrüche: Im Januar vergangenen Jahres gingen über 13 300 Einbruchsanzeigen in den Polizeiwachen ein. Allerdings blieb es in über einem Drittel der Fälle beim Versuch. Und im Jahresverlauf sanken die Einbruchszahlen wieder deutlich ab, bis auf 6137 Fälle in NRW im September 2016.

Im GA-Interview im September 2016 bemühte sich NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, die Zahlen einzuordnen: „Bei Mord und Totschlag liegen wir auf der niedrigsten Kriminalitätsrate seit 20 Jahren. Und die Zahl der Einbrüche steigt nicht nur in NRW, sondern bundesweit“, meinte Kraft. Die Ministerpräsidentin weiß, dass das Thema Innere Sicherheit für die Landtagswahl im Frühjahr entscheidend sein kann.

Deshab ist es eine schlechte Nachricht für sie, wenn der Bochumer Kriminologe Feltes von einem „Verbrechensfurcht-Paradox“ spricht: die Wähler beurteilen die Lage wesentlich schlechter, als sie tatsächlich ist. „Die subjektive Kriminalitätsfurcht und die objektive Wahrscheinlichkeit, Opfer einer Straftat zu werden, klaffen weit auseinander“, so Feltes. Das für die Kriminalitätsbekämpfung zuständige Innenministerium ist bekanntlich in der Hand von SPD-Mann Ralf Jäger.

Videoüberwachung rückt in den Fokus

Dass die Geschehnisse der Kölner Silvesternacht eine Reihe von Tabus aus dem Weg geräumt haben, ist dabei unleugbar. Beispiel Videoüberwachung: Seit Jahren wird über einen verstärkten Kameraeinsatz diskutiert. Ausgerechnet die rot-grüne Landesregierung genehmigte 2016 die Installation neuer Überwachungskameras im Bereich von fünf weiteren Polizeipräsidien. Alleine in Köln sollen 38 weitere elektronische Augen in Betrieb gehen – nicht nur im Dienste der Kriminalitätsbekämpfung, sondern auch, um den Verbrechensängsten in der Bevölkerung zu begegnen.

Im NRW-Landtag gibt es mittlerweile eine breite Mehrheit, die einen Ausbau der Videoüberwachung unterstützt – viele SPD-Innenpolitiker haben sich auf die Seite der Unterstützer geschlagen. „Am fehlenden Geld“, meinte etwa der SPD-Innenpolitiker Thomas Stotko, werde „kein einziger Plan für mehr Kameraüberwachung scheitern“.

Aufgelöst ist die Blockade auch bei den Bodycams, kleinen tragbaren Kameras, die die Polizisten am Körper tragen und bei Bedarf einschalten können. In den USA gehören Bodycams längst zur polizeilichen Grundausstattung, in mehreren Bundesländern wird ihr Einsatz getestet. Das soll nun auch in NRW geschehen, die Polizisten sollen die Kamera einschalten dürfen, „wenn in einer Situation Gefahr für sie oder Dritte droht“. Damit reagiert die Landesregierung auch auf zunehmende Angriffe, Bedrohungen und Beleidigungen von Uniformierten. Wenn die Täter damit rechnen müssen, dass Aggressionen oder Tätlichkeiten gegen Beamte mit Videoaufnahmen dokumentiert werden, habe das einen abschreckenden Effekt, meinen Praktiker.

Justiz wird verstärkt

Im Sinn dürften sie dabei auch Vorfälle haben wie den im Oktober in Dortmund: Als ein junger Mann kontrolliert werden sollte, der Polizisten beleidigt hatte, rottete sich eine Schar von rund Hundert Personen zusammen und bedrängte und beleidigte die Beamten. Eine Flasche flog aus der Menge auf den Einsatzwagen der Polizisten. Mehrere Personen blockierten die Straße, als sie den Festgenommenen abtransportieren wollten. Erst Verstärkung löste die Situation auf.

Die Szene steht für ein weiteres Handlungsfeld, das die Sorge vieler Bürger um ihre persönliche Sicherheit beeinflusst: die Situation in einigen Vierteln von Städten vor allem im Ruhrgebiet, in denen sich ganze Straßenzüge unter der Kontrolle von kriminellen ausländischen Clans befinden. Zwar beteuert NRW-Innenminister Jäger, dass es keine „No-Go-Areas“ im Land gebe. Doch die Brennpunkt-Viertel kennt auch Jäger: vernachlässigte und verarmte Stadtteile wie Duisburg-Marxloh, die Dortmunder Nordstadt oder Essen-Altenessen.

Der Düsseldorfer Stadtteil Oberbilk wird im Volksmund wegen der vielen Zuwanderer aus dem nordafrikanischen Königreich Klein-Marokko genannt und gilt als Kriminalitätsschwerpunkt. Kriminelle aus den Maghreb-Staaten, im Polizeijargon Nafris, haben Polizei und Landesregierung ohnehin als besondere Problemgruppe ausgemacht. Die Zahl der Häftlinge und Untersuchungsgefangenen aus Tunesien, Marokko und Algerien ist überproportional hoch. Um den Druck auf Straftäter zu erhöhen, rüstet die Justiz personell auf, alleine mit 100 neuen Staatsanwälten und Richtern. Auch im laufenden Jahr soll die Justiz um hundert weitere Kräfte verstärkt werden.

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