Kommentar zum deutsch-türkischen Verhältnis Die Zeit danach

Bonn · Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei erlebt die wohl schwerste Belastungsprobe der vergangenen Jahre. Deeskalation ist jetzt wichtig und ein Blick weit nach vorn, denn es kommt die Zeit nach Erdogan.

Das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei erlebt die wohl schwerste Belastungsprobe der letzten Jahre. Es zeichnet sich ab, dass dieses Verhältnis neu definiert werden muss. Präsident Erdogan trägt die innertürkischen Konflikte nach Deutschland. Die deutsche Regierung ist bemüht, den Rachefeldzug gegen alle seine Gegner auf Distanz zu halten. Erfolg wird sie damit nur haben, wenn sie einen Gesprächsfaden zu Erdogan hält. Der ist nach der Resolution des Bundestages in Sachen Armenien sehr dünn geworden. Das Papier mag in der Sache begründet sein, kam jedoch zur völlig falschen Zeit. Die Zeichen stehen auf Konflikt, und das liegt nicht nur an den Türken.

Darf man mit Erdogan weiter Umgang pflegen, wo er doch wie ein Despot agiert und demokratische Werte mit Füßen tritt? Nüchtern betrachtet wird Deutschland es wohl müssen. Es geht um starke militärische und strategische Interessen. Immerhin stehen ein paar Hundert deutsche Soldaten in dem Land. Es bleibt der Schlüssel für die Lösung der Flüchtlingsfrage. Eine Türkei, die nicht zur Ruhe kommt, schwächt überdies die Position der Nato und der friedlichen Kräfte in der Region mit unabsehbaren Folgen. Wie viel demokratische Moral sich Deutschland und seine Partner da leisten können, wird wohl von Fall zu Fall entschieden. Die deutsche Regierung wird lavieren und auf einen demokratischen Neubeginn hoffen.

Doch die Sache ist noch komplizierter. Denn beide Länder sind über die starke türkische Minderheit in Deutschland eng aneinander gebunden. Wer jetzt Grundsatzfragen zum Verhältnis der Deutschen und der Türken stellt, ist spät dran. Diese Fragen sind faktisch längst beantwortet. Rund drei Millionen Menschen in Deutschland haben türkische Wurzeln. Sie sind Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen, Ehepartner, Kinder. 1,5 Millionen von ihnen haben einen deutschen Pass und rund eine halbe Million besitzt eine doppelte Staatsbürgerschaft. Jedes politische Thema dieser Bevölkerungsgruppe ist damit automatisch ein Thema der deutschen Politik. Die internen Probleme der Türkei fordern diese Menschen heraus. Sie tragen diese Konflikte hierzulande aus. Das Grundgesetz gibt ihnen das Demonstrationsrecht. Das Problem entsteht nur, weil sich viele Türken hier nicht zu Hause fühlen. Wer es also anders haben möchte, der muss mehr für die Integration tun.

Weiter Öl ins Feuer zu gießen, wäre fatal. Deeskalation ist jetzt wichtig und ein Blick weit nach vorn, denn es kommt die Zeit nach Erdogan. Deutschland muss den Opfern der Racheaktionen helfen. Es muss Kontakt zu allen demokratischen Kräften halten, zu Kurden und Armeniern und zur Regierung natürlich auch. Die Beziehungen zwischen den Ländern und Völkern sind bedeutsamer als die gegenwärtige Krise. Sie halten daher auch Belastungen aus.

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