Sterbehilfe Die Juristin

Bonn · Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier macht sich dafür stark,dass die bisher straffreie Hilfe zum Suizid nichtkriminalisiert wird. Für sie garantiert die Verfassung das Recht auf Selbstbestimmung bis zum Tod.

 Der Lebensbaum in Ingrid Matthäus-Maiers Garten steht für ihre Geradlinigkeit. Er war 1982 ein Geschenk des Finanzauschusses, als sie aus Solidarität mit Helmut Schmidt ihren Vorsitz niederlegte.

Der Lebensbaum in Ingrid Matthäus-Maiers Garten steht für ihre Geradlinigkeit. Er war 1982 ein Geschenk des Finanzauschusses, als sie aus Solidarität mit Helmut Schmidt ihren Vorsitz niederlegte.

Foto: Volker Lannert

Wer über den Tod spricht, gelangt früher oder später zu seinen ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Sterben. So geht es auch Ingrid Matthäus-Maier. Die frühere Bundespolitikerin und ehemalige Verwaltungsrichterin setzt sich dafür ein, die Sterbehilfe nicht zu kriminalisieren. Und jenseits juristischer, gesellschaftspolitischer und ethischer Argumente denkt sie dabei an ihren Vater.

"So stirbst du nicht." Der Entschluss steht fest, seitdem die heute 69-Jährige ihren zeitlebens sportlichen und fröhlichen Vater einen qualvollen Tod sterben sah. Leid über Jahre - trotz liebevoller Pflege. Das war das zweite Mal in ihrem Leben, dass Ingrid Matthäus-Maier mit dem Thema Sterbehilfe konfrontiert wurde.

Zum ersten Mal begegnete sie dem Thema Ende der 60er Jahre im Studium in Gießen in einer Strafrechtsklausur. Der Fall: Ein Schwerkranker erhält aus der Hand seines Verwandten einen Becher mit einer tödlichen Flüssigkeit, trinkt, stirbt. Die Fragestellung: Ist die geleistete Beihilfe strafbar? "Da der Suizid selbst nicht strafbar ist, kann es auch die Hilfe dazu nicht sein", argumentierte die angehende Juristin. "In der Klausur hatte ich eine 1", erinnert sich Matthäus-Maier.

"Mein Ende gehört mir", daran hält die Sankt Augustinerin unbeirrt fest. In die öffentliche Diskussion eingeschaltet hat sie sich, als das Thema 2014 zum dritten Mal an ihrem Horizont auftauchte: Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) meldete sich zu Wort, um Sterbehilfe verbieten zu lassen. Zumindest die organisierte. "Mit der schärfsten Waffe des Staates, dem Strafrecht, will er den assistierten Suizid unterbinden ..." Matthäus-Maier schüttelt den Kopf.

Die Politikerin, die im Herbst 1982 aus Protest gegen die christlich-liberale Koalition aus der FDP aus- und in die SPD eintrat, ist eine Frau mit Prinzipien: "Mein Ziel ist es, ein Verbot der Sterbehilfe zu verhindern." Weil es weder ihrer persönlichen Überzeugung noch dem in der Verfassung garantierten Recht auf Selbstbestimmung entspricht, nicht über das eigene Ende bestimmen zu dürfen. Ob mit oder ohne Hilfe.

Was Ingrid Matthäus-Maier macht, macht sie ganz oder gar nicht. Das gilt auch für ihren Einsatz gegen die Kriminalisierung der Sterbehilfe. Auf dem Esstisch in ihrem Haus in Birlinghoven stapeln sich Bücher und Unterlagen. Kein Zweifel, die Frau ist tief in die Materie eingetaucht. Und nicht nur sie.

Als ein Buch fehlt, springt sie auf, läuft die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer ihres Mannes, eines Mathematikers. Der hat noch ein Exemplar von Uwe-Christian Arnolds Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben mit dem Titel "Letzte Hilfe" zur Hand. Im März 2012 hat der Autor, einer von Deutschlands bekanntesten Sterbehelfern, vor dem Berliner Verwaltungsgericht einen Sieg gegen die dortige Ärztekammer errungen. Sie hatte ihm, wie jedem im Kammergebiet tätigen Arzt, verboten, Patienten tödliche Substanzen zu überlassen. Ohne Ausnahme. Das Gericht hielt die Verfügung der Ärztekammer für zu weitgehend und hob sie auf. Und Arnold begleitet weiter Sterbende auf ihrem letzten Weg. Mit oder ohne Sterbehilfe. "Das Wissen 'Ich kann es tun, wenn es ganz hart kommt' kann sogar helfen, den Suizid zu verhindern", glaubt Matthäus-Maier.

Was die Justiz angeht, sieht sie sich mit ihrer Haltung zur passiven Sterbehilfe in guter Gesellschaft. Die von knapp 150 deutschen Jura-Professoren unterzeichnete Stellungnahme vom April 2015 ist Wasser auf ihre Mühlen. "Mit der Strafbarkeit des assistierten Suizids würde die in den letzten Jahren durch den Bundesgesetzgeber und die Gerichte erreichte weitgehende Entkriminalisierung des sensiblen Themas Sterbehilfe konterkariert," äußern die Juristen ihre Sorge.

Die Namensliste darunter liest sich wie das Who is who der deutschen Rechtslehre. Um gegen Sterbehilfevereine, zum Beispiel den des Ex-Hamburger Justizsenators Roger Kusch, vorzugehen, reiche das geltende Recht, sind die Unterzeichner überzeugt. Für Matthäus-Maier ohnehin ein vorgeschobener Grund, das Gesetz infrage zu stellen: "Den Herrn Kusch mag ich auch nicht. Aber ist es nicht so, dass er eine Lücke füllt, die durch die Berufsorganisation der Ärzte entstanden ist?"

Auch das Gros der Bevölkerung weiß sie hinter sich: In verschiedenen Umfragen haben sich mehr als 70 Prozent der Befragten für passive Sterbehilfe ausgesprochen. Selbst bei einer aktuellen Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) befürworteten 63 Prozent die Hilfe zum Suizid.

"Was lebenswert ist, kann nur der Betroffene selbst beurteilen", findet Ingrid Matthäus-Maier. Nicht zuletzt aus diesem Grund spiele die 2009 eingeführte Patientenverfügung eine entscheidende Rolle, in der jeder Bürger seinen Willen festhalten kann. Die Verfügung oder eine nachweisbare, mündliche Willensbekundung ist laut Matthäus-Maier zusätzlich von Bedeutung, weil damit die Pflicht entfällt, lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen, sobald der Sterbende bewusstlos wird, um einer etwaigen Klage wegen unterlassener Hilfeleistung zu entgehen.

"Niemand darf zum Sterben gezwungen werden, aber auch nicht zum Leben", plädiert die Juristin für die Wahlfreiheit. Das Recht der freien Entscheidung gelte für den Kranken ebenso wie für den potenziellen Helfer, egal ob Angehöriger oder Arzt. Für Augenwischerei hält sie die Idee, dass mehr Geld für Palliativstationen und Hospize das Problem lösen könnte. "Ich halte sehr viel davon und bin für jede Unterstützung, aber es gibt auch Krankheiten, die auch durch beste palliative Pflege schwer zu behandeln sind." Außerdem werde es angesichts der demografischen Entwicklung trotz aller Anstrengungen keine ausreichenden und flächendeckenden Angebote geben, warnt sie. "Gehört das dann nicht zu meiner Selbstbestimmung dazu, meinen Kindern nicht zur Last fallen zu wollen?", fragt die Mutter von zwei Kindern.

Keine leeren Worte. Wer Matthäus-Maier bei öffentlichen Auftritten beobachtet, merkt das rasch. Wo andere schweigen, erteilt sie einem verzweifelten älteren Mann konkreten Rat. Seine Frau leide seit Jahren in einem Pflegeheim. "Darf ich ihr die gesammelten Schlafmittel mit Alkohol verabreichen?", will er bei einer Podiumsdiskussion wissen. Matthäus-Maier: "Sie mixen das und stellen ihrer Frau das hin, aber trinken muss sie es selbst."

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