Zum Tod von Helmut Schmidt Der Hanseat

Hamburg · Krisenmanager, Hanseat und Elder Statesman: Helmut Schmidt hinterlässt eine große Lücke in seinem Land und in der SPD. Der Altkanzler starb nun im Alter von 96 Jahren in Hamburg.

Soeben hat er seiner Partei sein Vermächtnis hinterlassen. Die Delegierten sind aufgestanden und applaudieren. Helmut Schmidt fingert erst einmal in der Tasche seines Jacketts, holt eine Schachtel mit Tabakwaren heraus und steckt sich eine Zigarette an. „Schmidt Schnauze“ tut, was der da 92-Jährige fast sein gesamtes Leben lang getan hat. Er raucht. Nach mehr als einer Stunde Nikotinpause schmecken die ersten Züge besonders intensiv.

Es ist der 4. Dezember 2011, kurz nach 11 Uhr. Berlin, ehemaliger Postbahnhof, heute neudeutsch „Station“ genannt. Schmidt hat einen SPD-Parteitag wach- und warm geredet. Eine Mischung aus großer Geschichtsstunde mit Winston Churchill, Robert Schuman und Jean Monnet, eine Warnung vor Tendenzen der Renationalisierung in Europa, ein Appell, sich des womöglich bald schwindenden Einflusses Europas in der Welt bewusst zu sein, ein Plädoyer für den Euro und die Europäische Union, weil beides im Falle des Gelingens für Frieden steht, und schließlich sein Erinnern an die drei Grundwerte des Godesberger Programmes: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität.

Der große, alte Mann der SPD hat gesprochen. Einer, der nichts und niemandem mehr etwas beweisen muss. Nach 13 Jahren hat sich Schmidt dazu bewegen lassen, wieder einmal bei einem Bundesparteitag seiner SPD aufzutreten, „seiner“ Partei, von der sich Schmidt in Zeiten des NATO-Doppelbeschlusses zur Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa Anfang der 80er Jahre entfernt hat. Und Teile der Partei sich von ihm. Ein gewisser Oskar Lafontaine sagte 1982 in einem „Stern“-Interview, von Schmidt beschworene Tugenden wie Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit und Standhaftigkeit seien „Sekundärtugenden. Ganz präzise gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ Schmidt konterte: Oder es befreien. Gut zwei Jahrzehnte später erinnerte ein gewisser Joschka Fischer bei einem Bundestreffen einer anderen Partei, dass die Grünen, „liebe Freundinnen und Freunde, nicht gegen Helmut Kohl, sondern gegen Helmut Schmidt gegründet“ worden seien. Wohl gemerkt: gegen Helmut Schmidt.

Jener Schmidt, der sich als Innensenator bei der Hamburger Hochwasserkatastrophe im Februar 1962 als energischer Krisenmanager einen Namen machte. Und auch jener Helmut Schmidt, der mit Vorgänger Willy Brandt als Bundeskanzler und dem berüchtigten Fraktionszuchtmeister Herbert Wehner eine Troika der besonderen Art bildete: drei begnadete Denker, Redner, Dompteure und auch intellektuell-eitle Charaktere, die sich kongenial ergänzten, die sich brauchten und sich doch auch misstrauisch beäugten.

Unterstützung für Schröder

Zuletzt war Schmidt im April 1998 bei einem SPD-Bundesparteitag aufgetreten. Damals gab es einen Kandidaten Gerhard Schröder, der es im selben Jahr noch zu Kanzler-Ehren bringen sollte. Der dritte Bundeskanzler mit SPD-Parteibuch nach Willy Brandt und Schmidt selbst, der wiederum die Republik nach Brandts Rücktritt in Folge der Guillaume-Affäre von 1974 bis 1982 regierte.

[kein Linktext vorhanden] Bei Schmidts Parteitagsrede im Dezember 2011 hofften viele Mitglieder und Anhänger im Saal, der Auftritt des zweiten Bundeskanzlers mit SPD-Parteibuch könnte womöglich ein gutes Omen dafür sein, dass die Sozialdemokraten nach der Bundestagswahl 2013 den vierten Kanzler aus ihren Reihen stellen würden. Doch es sollte auch in diesem Anlauf mit dem früheren Bundesfinanzminister Peer Steinbrück als SPD-Spitzenkandidat, wie schon vier Jahre zuvor mit Frank-Walter Steinmeier als Herausforderer von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), nichts werden. Mit Steinbrück, der 2008 nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers das Land an der Seite von Merkel durch die erste Finanzkrise steuerte, hat Schmidt ein Gesprächsbuch unter anderem über die Ursachen der Finanzkrise und deren Überwindung geschrieben.

Schmidt und Steinbrück teilten ihre Leidenschaft als passionierte Schachspieler. Ihr Werk, mit dem sie auf Werbe- und Königsmacher-Tour durch Deutschland zogen, nannten sie sinnigerweise „Zug um Zug“. Schmidt brauchte drei Worte, um klarzumachen, was er von Steinbrück hält und auf welcher politischen Position er ihn sich idealerweise wünschte: „Er kann es.“ Die Wähler sahen es mit Mehrheit anders. Merkel kann es besser.

Helmut Schmidt bei Sandra Maischberger (28.04.2015)

So wie Schmidt es konnte – über achteinhalb lange Jahre, in denen er als Bundeskanzler unter anderem den „Deutschen Herbst“ 1977 erleben, durchleiden, durchwachen und dabei Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste. Nach der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback, des Bankiers Jürgen Ponto und schließlich von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer durch die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF) eskalierte die

Situation, als palästinensische Terroristen mit der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ inhaftierte Gesinnungsgenossen der RAF in Stuttgart-Stammheim freipressen wollen. Schmidt verantwortet ein riskantes Kommando: den Sturm der deutschen Polizei-Eliteeinheit GSG 9 auf die „Landshut“ auf dem Flughafen von Mogadischu/Somalia. Die Geiselbefreiung gelang. Hätte es ein Blutbad unter den deutschen Passagieren gegeben, Schmidt wäre nur der Rücktritt geblieben. Der Bundeskanzler übernimmt wenig später vor dem Bundestag die politische Verantwortung für den Tod von Arbeitgeberpräsident Schleyer, der Opfer der „Staatsräson“ geworden war.

Schmidt, Hamburger Hanseat durch und durch, regiert weiter. Durch sein überaus enges, vertrauensvolles Verhältnis zum französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing festigte er die deutsch-französische Achse. Mit dem Franzosen leitete Schmidt in den 70er Jahren in der Folge des Ölpreis-Schocks, der folgenden Inflation und dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods, Schritte zur Überwindung der Krise sowie zur Einführung eines Europäischen Währungssystems mit geringeren Wechselkursrisiken ein.

Oft genug hieß es vor allem bei Unionswählern über ihn, Schmidt sei der richtige Kanzler für Deutschland, aber in der falschen Partei. Bei der Bundestagwahl 1980 müssen die Unionsparteien mit ihrem Spitzenkandidat Franz Josef Strauß deutliche Verluste hinnehmen . Schmidt kann die sozial- liberale Koalition fortsetzen.

Leben mit einem Herzschrittmacher

Im Oktober 1981 muss sich Schmidt nach einem ersten gesundheitlichen Warnschuss mit schweren Herz-Rhythmus-Störungen ins Krankenhaus einliefern lassen. Fortan lebt der Kettenraucher, der es auch weiter nicht lassen wollte, mit einem Herzschrittmacher. Ironisch kommentierte einmal SPD-Urgestein Egon Bahr, selbst energischer Raucher: „Ich bewundere Helmut Schmidt. Der raucht nur noch die Hälfte im Vergleich zu früher: 40 Stück am Tag.“

Internationale Pressestimmen zum Tod von Helmut SchmidtWenige Monate später jedenfalls stellt Schmidt im Februar 1982 im Bundestag nach immer härteren Auseinandersetzungen in der Koalition und in seiner Partei um die Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik die Vertrauensfrage. Die Koalition steht - mit einstimmigem Votum. Schmidt kann zunächst gestärkt weiter regieren.

Doch der Burgfrieden hält nicht lange. Im September 1982 bricht die sozial-liberale Koalition von SPD und FDP auseinander, als die FDP-Minister nach Streit über den Bundeshaushalt mit ihrem Rücktritt der von Schmidt geplanten Entlassung zuvorkommen. Am 1. Oktober 1982 enden Schmidts Kanzlerjahre. Union und FDP machen Helmut Kohl mit einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Bundeskanzler. Kohl sichert seinen Weg ins Kanzleramt sechs Monate später bei Neuwahlen im März 1983 ab. Schmidt hatte bereits Ende Oktober 1982 auf eine weitere Kanzlerkandidatur verzichtet – unter anderem unter Verweis auf seine angegriffene Gesundheit.

Interview mit dem General-Anzeiger

Schmidt bleibt politisch engagiert, ist als so genannter „elder statesman“ im In- und Ausland gefragt und findet im Mai 1983 als Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein Podium für seine Gedanken über Politik, Wirtschaft und Zeitläufte. In einem Interview mit dem „General-Anzeiger“ 2003 zu seinem damals 85. Geburtstag beklagte Schmidt beispielsweise eine Weinerlichkeit im Lande in Folge der Hartz-Reformen, obwohl Deutschland „inzwischen die kürzesten Arbeitszeiten und die längsten Urlaubszeiten in der ganzen Welt“ habe. Wird in diesem Land zu viel gejammert, fragte der GA. Schmidt: „Eindeutig Ja.“ Von Umfragen und sonstiger Expertenmeinung hielt der Alt-Kanzler ohnehin nie viel. „Schmeißen Sie die ganzen Experten in den Papierkorb. Und tun Sie die ganzen Professoren noch dazu“, empfahl „Schmidt Schnauze“ hanseatisch-kess.

Immer an seiner Seite – schon als junger Abgeordneter des Bundestages, als Innensenator in Hamburg, als Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, als Verteidigungsminister, als Bundesfinanzminister, als Bundeskanzler und natürlich auch als nicht mehr aktiver Politiker, aber immer politisch denkender und handelnder Mensch: seine Ehefrau Hannelore, besser bekannt als „Loki“, geborene Glaser. Der Student der Volkswirtschaft und die Lehrerin hatten 1942 geheiratet. Ihre gemeinsame Tochter Susanne kam 1947 zur Welt. „Loki“ Schmidt war der Lebensmensch des Alt-Kanzlers. Ihr Tod im Oktober 2010 war für ihn ein kaum tragbarer und nie ersetzbarer Verlust, auch wenn Schmidt nach „Lokis“ Tod eine neue Verbindung mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Ruth Loah einging.

Jetzt ist auch Helmut Schmidt am Ende seiner Lebensstrecke.

Mit 96 Jahren starb er nun. Er wird diesem Land fehlen. Sehr.

Helmut Schmidt – Mein Jahrhundert

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