Komplizierter als gedacht Der Bundestag soll kleiner werden

Berlin · 709 Parlamentarier anstatt 598: Alle Fraktionen wollen die Aufblähung des Parlamentes rückgängig machen. Dafür soll sogar das Wahlrecht geändert werden. Doch auf eine Lösung ist noch lange zu warten.

Der Schock der Wahlnacht steckt der Bundestagsverwaltung noch in den Knochen. Dass die gesetzliche Zahl von 598 Bundestagsabgeordneten auf 630 oder 650 steigen könnte, war allen Beteiligten klar, aber dass das als unwahrscheinlich dargestellte Anschwellen des Parlamentes auf 700 Abgeordnete noch übertroffen würde und Büros für nun 709 Parlamentarier geschaffen werden mussten, ließ bei vielen die Luft wegbleiben.

Umso fester war der Vorsatz, das Wahlrecht so zu reformieren, dass der Bundestag künftig wieder näher an die Vorgaben heranrückt. Und die besagen, dass in 299 Wahlkreisen jeweils ein direkt gewählter Abgeordneter über die Erststimme in den Bundestag einzieht und weitere 299 Abgeordnete so auf die Landeslisten verteilt werden, dass insgesamt die Kräfteverhältnisse der Zweitstimmen widergespiegelt werden. Längst hat ein Gremium um Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble vertraulich die Arbeit aufgenommen. Nach den ersten Beratungen sieht es jedoch nicht nach einer schnellen Lösung aus.

Dafür trägt Karlsruhe die Verantwortung. In der Vergangenheit hatte sich der Bundestag mit Überhangmandaten beholfen. Die entstanden immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Sitze direkt per Erststimme gewonnen hatte, als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil insgesamt zustanden. Da kamen dann mal sechs, mal zwölf Abgeordnete mehr in den Bundestag. Und wenn aus dem Bundesland einer ausschied, gab es für ihn keinen Nachrücker – der Bundestag schrumpfte.

Verfassungsrichter stellten sich quer

Die Mehrheitsverhältnisse waren natürlich dadurch tangiert. So war Gerhard Schröder am Wahlabend 1998 zunächst geneigt, eine rot-schwarze Koalition zu bilden, weil ihm die hauchdünne Mehrheit für Rot-Grün nicht stabil genug erschien. Erst als 13 Überhangmandate dazu kamen, wagte er die neue Koalition.

Allerdings stellten sich die Verfassungsrichter quer, als die Möglichkeit des negativen Stimmengewichtes immer offensichtlicher und bei einer Nachwahl in Dresden 2005 auch öffentlich wurde: Da konnte eine Partei stärker werden, wenn ihre Anhänger eine andere wählten. Fortan mussten alle Überhangmandate so lange ausgeglichen werden, bis das Zweitstimmenergebnis über alle Bundesländer hinweg wieder stimmte. Und das führt dazu: Wenn es mehr und kleinere Parteien gibt, muss jedes Überhangmandat mit um so mehr Mandaten für die anderen ausgeglichen werden.

Vorschläge wurden schon in der letzten Wahlperiode zur Genüge diskutiert. Sie sind theoretisch zumeist akzeptabel. Sobald eine Partei aber befürchtet, sie könnte dabei schlechter wegkommen, stellt sie sich schnell quer. Wer will es zum Beispiel den NRW-Abgeordneten verübeln, dass sie einen Ausgleich nicht wollen, wenn der darauf hinausläuft, dass Überhangmandate für die CDU in Baden-Württemberg dadurch reguliert werden, dass in NRW weniger CDU-Abgeordnete über die Liste in den Bundestag kommen? Auf wenig Resonanz stößt auch der Vorschlag der Grünen, Überhangmandate zu verhindern, indem alle diejenigen direkt gewählten Abgeordneten ihren Sitz nicht erhalten sollen, die nur mit geringem Vorsprung gewählt wurden.

Grüne nicht betroffen

Das trifft zufällig Union und SPD, aber nicht die Grünen. Und den Vorschlag der Union, nur bis zu einer bestimmten Grenze auszugleichen, finden die kleinen Parteien nicht gut, da sie dann betroffen wären. „Das hätte das Zweitstimmenergebnis erheblich verzerrt“, kritisiert Grünen-Parlamentsgeschäftsführerin Britta Haßelmann. Sie besteht für die Grünen darauf, dass das „Zweitstimmenergebnis eins zu eins wiedergegeben wird, denn jede Stimme muss uns gleich viel wert sein“.

Der FDP-Wahlrechtsexperte Stefan Ruppert sieht für die weiteren Beratungen zu viele Vorgaben: Derzeit wolle man erstens am Zwei-Stimmen-Wahlrecht mit föderativen Strukturen festhalten, zweitens nicht in die Verfassung eingreifen und drittens die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes berücksichtigen. „Ich vermute, dass wir eine der drei Prämissen aufgeben müssen, um zu einer Lösung zu kommen“, sagt der erfahrene Wahlrechtsfachmann.

Die Fraktionen wollen nun externen Sachverstand hinzuziehen und Motivforschung im Umfeld des Verfassungsgerichtes betreiben. Denn nicht nur Ruppert weiß: „Wenn wir ein neues Wahlrecht bereits für 2021 und nicht erst für 2025 haben wollen, müssen wir aufs Tempo drücken.“

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