Interview mit Una Röhr-Sendlmeier Bonner Professorin hält nichts von "Lesen durch Schreiben"

Bonn · Die Psychologie-Professorin Una Röhr-Sendlmeier über ihre viel diskutierte Studie zur Rechtschreibung, das Lernen mit der Fibel und die Methode „Lesen durch Schreiben“.

 Una Röhr-Sendlmeier

Una Röhr-Sendlmeier

Foto: Tobias Kuhl

Frau Röhr-Sendlmeier, haben Sie mit einer solchen Resonanz auf Ihre Studie gerechnet?

Una Röhr-Sendlmeier: Nein, eine solche Diskussion habe ich nicht erwartet. Wir haben die Studie nach Vorbegutachtungen ganz solide auf Tagungen vorgestellt und auch viel positive Resonanz von Fachkollegen erhalten. Es ist aber offensichtlich ein so hochrelevantes Thema, dass sich jetzt sehr viele Interessengruppen an dem Thema reiben. Es scheint mir, dass dabei auch sehr starke Glaubenssätze und vorgefertigte Meinungen eine Rolle spielen. Aber unsere objektiv erhobenen Ergebnisse legen klare Fakten vor.

Mit welcher Fragestellung haben Sie die Studie 2013 begonnen?

Röhr-Sendlmeier: Wir wollten ein realistisches Abbild dessen geben, was in der Unterrichtswirklichkeit mit bestimmten Didaktiken am Ende an Rechtschreibleistung der Schüler herauskommt. Die Deutlichkeit der Ergebnisse war selbst für uns überraschend.

Was haben Sie festgestellt?

Röhr-Sendlmeier: Kinder, die mit einem strukturierten Lehrwerk, also einer Fibel, Rechtschreibung erlernten, sind den Kindern, die nach einer sogenannten freien Methode arbeiteten, in ihren Rechtschreibleistungen in jedem Schuljahr in hohem Maße überlegen. Die Leistungen der Fibelkinder sind, mit wenigen Ausnahmen, im durchschnittlichen bis überdurchschnittlichen Bereich. Bei den anderen Zugängen, dem „Lesen durch Schreiben“ und der „Rechtschreibwerkstatt“, finden wir ganz große Streuungen. Es gibt Kinder, die auch nach diesen Lehrmethoden gute Rechtschreibleistungen zeigen, aber das Gros der Kinder liegt unterhalb des Durchschnitts. Und die Ausschläge in den weit unterdurchschnittlichen Bereich sind ganz enorm.

In Zahlen ausgedrückt...

Röhr-Sendlmeier: ...machten die Kinder unserer Stichprobe, die mit „Lesen durch Schreiben“ gelernt hatten, am Ende des vierten Schuljahres 55 Prozent mehr Fehler als die Fibelkinder. Die „Rechtschreibwerkstatt“-Kinder, die nach einem verwandten Ansatz lernen, machten 105 Prozent mehr Fehler. Dabei wiesen die „Lesen-durch-Schreiben“-Kinder zu Beginn ihrer Schulzeit sogar größere Vorkenntnisse auf.

Ist die Studie repräsentativ?

Röhr-Sendlmeier: Wir haben einen substanziellen Datensatz und zwei unterschiedliche methodische Zugänge gewählt, insofern sind es Fakten, die sicherlich belastbar sind. Die Studie ist aber nicht repräsentativ in dem Sinne, dass wir für das gesamte Bundesgebiet oder auch ganz Nordrhein-Westfalen Schulen nach bestimmten sozio-demografischen Kriterien ausgewählt haben.

Wie sind Sie vorgegangen?

Röhr-Sendlmeier: Wir haben in einer aufwendigen Längsschnittstudie 284 Kinder aus 18 Klassen im Köln/Bonner Raum, die ganz maßgeblich nach einer Didaktik lernen, wiederholt getestet. Um nicht die Ergebnisse der naturgemäß eher kleinen Stichprobe vorschnell zu generalisieren, haben wir zur Absicherung zusätzlich 2800 Kinder aus 142 Klassen über die vier Jahrgangsstufen hinweg punktuell im Querschnitt untersucht. Wir hatten keinen Extra- Topf, aus dem wir die Studie bezahlt haben, sondern nur meine Abteilungsgelder. Ich wollte die Studie auch unvoreingenommen und ohne Verpflichtungen gegenüber Drittmittelgebern durchführen.

Wie lernen Kinder am besten Schreiben?

Röhr-Sendlmeier: Indem ihnen zunächst mit sehr einfachen Wörtern und anhand von einzelnen Lauten und Buchstaben der Lautschriftbezug beigebracht wird. Es gibt in der deutschen Schriftsprache nur relativ wenige Wörter, die genau dem Lauteindruck entsprechen. Der Laut „i“ etwa kann als „i“, „ie“ „ieh“, „y“ oder „ee“ geschrieben werden. Insofern ist es wichtig, dass man die Kinder an diesen komplexen Sachverhalt behutsam und strukturiert heranführt, also von den einfachen Wörtern ausgehend zu den schwierigen. Das machen Fibeln. Wenn man Anlauttabellen verwenden möchte, muss man den Kindern gleich klarmachen, dass das Prinzip „Schreib, wie du sprichst“ nicht funktioniert. Kein Kind weiß, wie es spricht. Es hört, wie es spricht. Aber der Gehöreindruck führt systematisch zu Fehlschreibungen. Wenn, wie beim „Lesen durch Schreiben“, lange Zeit nur Anlauttabellen verwendet werden, können die Kinder die Rechtschreibung mit ihren Regeln und Ausnahmen nicht korrekt erwerben.

Sie plädieren also dafür, anders als beim „Lesen durch Schreiben“, Fehler von Anfang an zu korrigieren?

Röhr-Sendlmeier: Aus entwicklungs- und lernpsychologischer Sicht absolut. Das Problematische ist ja das doppelte Lernen, wenn Kinder etwas erst relativ lange falsch im Gedächtnis behalten dürfen und ihnen dann meist erst ab der dritten Klasse gesagt wird: Nein, das ist doch nicht richtig. Das ist nicht nur eine doppelte kognitive Belastung, sondern das schafft auch viel Frustration. Eine Schriftsprache ist ein Kulturwissen, das sich Kinder nicht innerhalb von vier Jahren zuverlässig ohne jede Anleitung beibringen können. Das ist eine Überforderung. Von dieser romantischen Vorstellung muss man wegkommen.

„Lesen-durch-Schreiben“-Befürworter betonen, dass ihre Methode Kinder deutlich mehr zum Schreiben motiviere als eine Fibel.

Röhr-Sendlmeier: Auch dies haben wir systematisch überprüft und finden in unserem großen Datensatz dafür keinen Hinweis. Die Kinder haben gleichermaßen gerne oder nicht gerne geschrieben, völlig unabhängig von der Didaktik. Wir haben aber allgemein festgestellt, dass es sehr positive Effekte auf die Rechtschreibleistung gibt, wenn es Eltern gelingt, ihre Kinder zu motivieren, indem sie Anregungen geben und zeigen, dass Schreiben etwas Tolles ist.

Die Rechtschreibwerkstatt wirft Ihnen in einem offenen Brief unter anderem Meinungs- und Stimmungsmache vor. Auch der Grundschulverband kritisiert Ihre Ergebnisse.

Röhr-Sendlmeier: Der Grundschulverband hat geschrieben, es sei unseriös, nicht die ganze Studie vorzulegen. Aber im Wissenschaftsbereich ist es völlig normal, dass man seine Ergebnisse zunächst gebündelt den Fachkollegen auf Fachtagungen vorstellt. Und die Öffentlichkeit ist informiert, dass da etwas im Gange ist und es interessante Befunde gibt. Wenn man offensichtlich keine Kenntnis von dieser normalen Praxis hat, kann man so einen Vorwurf aufstellen, aber dann sollte man sich doch vielleicht mit dem Wortlaut ein wenig zurückhalten und sagen: „Wir warten gespannt auf die Studie“. Das wäre angemessener als Diffamierungen und Verleumdungen. Der Vorwurf einer Meinungsmache ist völlig absurd. Wir haben solide Forschungsergebnisse vorgestellt und haben keinerlei wirtschaftliche Interessen, im Gegensatz etwa zur Rechtschreibwerkstatt. Uns ging es ausschließlich um das Erkenntnisinteresse und das Wohl der Kinder. Ich dachte, man kann über die Studie auch mit den „Verlierern“ auf einer Sachebene argumentieren. Das scheint aber nicht der Fall zu sein.

Wie haben sich die Rechtschreibleistungen über die Jahre entwickelt?

Röhr-Sendlmeier: Wolfgang Steinig hat die Rechtschreibleistungen von Viertklässlern aus den Jahren 1972, 2002 und 2012 verglichen und einen enormen Zuwachs an Fehlern verzeichnet. Im internationalen Vergleich sind andere Länder davongezogen. Es liegt tatsächlich mit der Rechtschreibung der Kinder in Deutschland einiges im Argen.

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