Interview Bürgerrechtler: Das Beste an der DDR war ihr Ende

Berlin · Roland Jahn, früher Bürgerrechtler, heute Beauftragter für die Stasi-Unterlagen, spricht über die verdrängte Mauer und unzufriedene Ostdeutsche.

Ist die Mauer im Alltagsleben in der DDR ein Thema gewesen?

Jahn: In der Familie eigentlich nicht. In der Schule wurde stets die große Leistung der Kampfgruppen der Arbeiterklasse beim Bau des antifaschistischen Schutzwalls gepriesen, denn damit habe der Sozialismus in Ruhe gedeihen können. Das war das Märchen, das man uns versucht hat, nahezubringen.

Sie haben geschrieben, dass man die Mauer verdrängt hat. Was meinen Sie damit?

Jahn: Man hat sich nicht mehr bewusst gemacht, dass dort Menschen erschossen wurden, weil sie von einer Seite der Stadt in die andere wollten. Normalerweise hätten wir jeden Tag eine Demonstration an der Mauer machen müssen. Aber wir haben es nicht gewagt und uns um unsere kleinen Alltagssorgen gekümmert.

War das nicht verständlich?

Jahn: Ja, aber im Nachhinein hat mich schon erschreckt, wie man gelernt hat, mit dieser Mauer zu leben und all den Menschenrechtsverletzungen. Ich bin als Schüler ins Volksbildungsministerium nach Berlin gefahren, um dagegen zu protestieren, dass unsere Schulleitung lange Haare bei Jungen verboten hatte. Ich hatte zwar Erfolg, aber als ich aus dem Ministerium rauskam, stand ich dort buchstäblich vor der Mauer. Da lag doch das eigentliche Problem dieses Staates.

Sie sind 1983 in die Bundesrepublik abgeschoben und ausgebürgert worden. Wie haben Sie die Mauer von der anderen Seite gesehen?

Jahn: Ich war zwar jetzt vor der Mauer, aber doch weiter hinter ihr. Denn ich war gewaltsam aus der Heimat gebracht worden, man hatte mich von Freunden und Familie getrennt. Als mir meine Mutter mit tränenerstickter Stimme am Telefon sagte, man hat uns unseren Sohn gestohlen, da wusste ich, dass die Freiheit des Westens nur eine halbe Freiheit ist, solange diese Mauer steht.

Wie sind Sie damit umgegangen?

Jahn: Ich war innerlich zerrissen. War ich Ostler oder Westler? Für mich war klar: Diesen inneren Widerspruch kann ich nur auflösen, wenn die Mauer fällt. Im West-Berlin der 80er Jahre habe ich quasi die Einheit schon gelebt. Die zwangsweise Ausbürgerung aus der DDR und die Situation in West-Berlin hat mir klargemacht, dass wir nicht an der Einheit vorbeikommen.

Wie war für Sie der 9. November?

Jahn: Das war ein kleiner Triumph. Als Fernsehjournalist hatte ich das Privileg, die ersten Bilder der Maueröffnung für die ARD vor der Kamera zu kommentieren. Dass ich das durfte, sechs Jahre, nachdem man mich von Ost nach West gebracht hatte, war eine Genugtuung. Nach der Sendung bin ich über die Grenze, gegen den Strom, von West nach Ost nach Jena gefahren zu meiner Familie. Das war schon verrückt.

Welche Erfahrungen aus der DDR helfen Ihnen heute noch weiter?

Jahn: Dass Menschen Dinge verändern können, wenn sie sich zusammentun und der Grundoptimismus, dass man sogar eine Mauer zu Fall bringen kann, die ein Staat als Stütze des Systems gebaut hat. Das Beste an der DDR war ihr Ende, weil die Menschen es geschafft haben, ihre Angst zu überwinden.

Viele sind unzufrieden, weil sie sich nicht wertgeschätzt fühlen, und wählen AfD. Wie sehen Sie das?

Jahn: Wichtig ist, dass die Menschen teilhaben am demokratischen Entscheidungsprozess und dazu gehören auch Parteien, die Positionen vertreten, die einem nicht genehm sind. Man sollte Respekt haben vor den Biografien der Menschen, Respekt vor den Leistungen im vereinten Deutschland, aber auch in der DDR-Zeit. Es kann keinen allgemeinen Maßstab geben für das Verhalten in einer Diktatur. Viele haben ihren Weg gesucht zwischen Anpassung und Widerspruch. Niemand kann sich anmaßen, zu sagen, man hätte Widerstand leisten, vielleicht ins Gefängnis gehen müssen.

Gibt es noch das Problem der Mauer in den Köpfen?

Jahn: Da wird viel herbeigeredet. Die Gegensätze zwischen Ost und West werden teilweise künstlich aufgebauscht. Zum zehnten Jahrestag der Einheit habe ich als Journalist eine Umfrage gemacht: Da gab es oft den Spruch, die Mauer sei noch in den Köpfen. Ich habe gefragt: Woran machen Sie das fest? Geantwortet haben die Menschen mit Hinweisen auf Medienberichte. Keiner hat ein Beispiel aus seiner eigenen Erfahrung erzählt. In den Begegnungen am Arbeitsplatz oder in der Freizeit gab es auch damals schon kaum eine Trennung zwischen Ost und West. Heute ist das nicht anders - vor allem bei den Jüngeren.

Was halten Sie von dem Vorschlag von Thüringens Bildungsminister Helmut Holter, mehr Schüleraustausch anzuregen?

Jahn: Es schadet nie, wenn junge Menschen auf Reisen gehen. Aber eine Trennung zwischen Ost und West gerade bei jenen, die diese gar nicht in ihren Köpfen haben, zu thematisieren, ist nicht hilfreich. Hilfreicher wäre, wenn Rentner aus der Lausitz ihre Reisefreiheit nutzen, um an die Saar zu fahren oder Saarländer mal die Lausitz besuchen.

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