Politische Wurzeln von Martin Schulz Auf Spurensuche in Würselen

Würselen · SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wird nicht müde, seine Heimat Würselen als Schauplatz seiner charakterlichen und politischen Sozialisation zu benennen. Mit 31 wurde der Politiker dort der jüngste Bürgermeister NRWs. Eine Spurensuche in der knapp 40.000-Einwohner großen Stadt.

 Er lebt mit seiner Ehefrau Inge, von Beruf Landschaftsarchitektin, in Würselen. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder.

Er lebt mit seiner Ehefrau Inge, von Beruf Landschaftsarchitektin, in Würselen. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder.

Foto: picture alliance / Oliver Berg/d

Tief im Westen. A4, Autobahnkreuz Aachen, die blauen Schilder weisen schon nach Antwerpen, da geht es kurz vor der offenen Grenze ab nach Würselen. Keine ausgesprochene Schönheit, auf den ersten Blick. Nüchterne Fassaden, rostbrauner Klinker. Im Zentrum der 39.000-Einwohner-Stadt kann man die Gebäude aus der Vorkriegszeit an einer Hand abzählen. Das hat seinen Grund: Der Krieg war hier zwar schon im Oktober 1944 vorbei, das Ende aber von unvorstellbarer Grausamkeit.

Der Hürtgenwald liegt nur wenige Autominuten entfernt. Mindestens 12.000 junge Amerikaner und mindestens 12.000 junge Deutsche verloren dort ihr Leben. Und in Würselen waren starke Verbände der Waffen-SS konzentriert; die US Army eroberte in sechswöchiger blutiger Schlacht Haus für Haus, Stockwerk für Stockwerk.

Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Das ist keine Leerformel in Würselen. Bislang hat es keine nationalistische Gruppierung in den Stadtrat geschafft. Als Pro NRW eine Kundgebung auf dem Morlaixplatz ankündigte, riefen die Vereine und Kirchen die Bürger auf, sich schon vorab auf dem nach der französischen Partnerstadt benannten Platz zu versammeln. Es kamen so viele, dass Pro NRW nicht mal mehr Raum fand, den Info-Stand aufzubauen. Dieser Tage hat die AfD einen Stand angemeldet. „Ich kann das rechtlich nicht verhindern“, sagt Bürgermeister Arno Nelles, 64 und Sozialdemokrat, vor drei Jahren mit 57,3 Prozent der Stimmen wiedergewählt. „Ich habe auch keine Lust, diese Leute zu Märtyrern zu machen.“

Wer in Würselen aufwächst, ist überzeugter Europäer, das bleibt nicht aus. Fünf europäische Hauptstädte liegen näher als die deutsche Hauptstadt. Die belgische Grenze ist sieben Kilometer entfernt, die niederländische nur drei Kilometer. Man kennt sich, man hilft sich, man feiert zusammen Karneval an diesem trinationalen Außenposten des Rheinlandes, im Herzen des EU-Vorläufers namens Montanunion. „Bevor der Euro eingeführt wurde, hatte ich immer drei Währungen im Portemonnaie“, erinnert sich Petra Reimer (50), die in der Espresso-Bar am Markt bedient. An einem einzigen Tag kann man auf der Kaiserstraße mehr Ausländern begegnen als in einer mecklenburgischen Kleinstadt im ganzen Jahr.

Die nur sechs Jahre nach Kriegsende gegründete Montanunion brachte die Montanstadt Würselen wieder auf die Beine. Zu seinen besten Zeiten unterhielt der Eschweiler Bergwerksverein hier Dutzende Zechen und Hütten. Hart arbeitende Menschen. Steinkohle wurde in Würselen schon abgebaut, da dachte noch niemand ans Ruhrgebiet. Im Nachbarort Eschweiler wurde 1842 Ruhr-Baron August Thyssen geboren, dessen Vater da schon im Aachener Revier den Grundstein für die spätere Dynastie gelegt hatte. Die frühe Industrialisierung brachte jede Menge sozialer Probleme mit sich. Gerechtigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft ist in Würselen seit fast 200 Jahren ein Thema.

Der Traum von der Fuballkarriere zerplatzt

Geboren wurde Martin Schulz 1955 im Nachbardorf Hehlrath, das seit der Kommunalreform zu Eschweiler gehört. Als jüngstes von fünf Kindern. Vater Albert war Polizist im mittleren Dienst, der Großvater Bergmann und Sozialdemokrat, wie fast Männer des väterlichen Zweigs. Für den liberalen Geist in der Familie spricht, dass Martins Mutter Clara den hiesigen CDU-Ortsverband mitgründete. Der Junge geht aufs katholische Heilig-Geist-Gymnasium und kickt bei SC Rhenania Würselen 05. Kapitän, eine Kämpfernatur, 1972 westdeutscher B-Jugend-Vizemeister.

Fußballprofi will er werden. Unbedingt. Schließlich wuchsen hier Jupp Derwall, Jupp Kapellmann und Torsten Frings heran, um mal die drei wichtigsten örtlichen Helden zu nennen. Aber bei dem Jungen mit der Kämpferseele ist der Ehrgeiz größer als das Talent. Eine Kreuzbandverletzung lässt den Traum endgültig platzen.

Auch in der Schule ist der hochintelligente Junge keine Leuchte, der Ehrgeiz auch nicht so groß wie auf dem Fußballplatz, nach zweimaligem Sitzenbleiben in Folge in der elften Klasse fliegt er ohne Abi vom Gymnasium.

Im „Dom“, wie die Würselener ihre katholische Pfarrkirche Sankt Sebastian nennen, versammelt sich am frühen Abend eine Handvoll älterer Frauen zur Andacht und murmelt Fürbitten. Gleich hinter dem Dom liegt die Schankwirtschaft Douben. Draußen und drinnen sieht sie aus, als sei seit den 70er Jahren nicht mehr groß was verändert worden. Kölsch und Pils einsvierzig, das Glas Wein (man hat die Wahl zwischen Rot und Weiß) zwei Euro. Mitte der 70er Jahre betäubt der arbeitslose junge Mann hier Abend für Abend seinen Frust, wird alkoholabhängig, verschuldet sich, denkt an Suizid – bis ihn der ältere Bruder Erwin, ein niedergelassener Allgemeinmediziner, aus dem Sumpf zieht.

Martin Schulz absolviert eine kaufmännische Lehre zum Buchhändler, arbeitet fünf Jahre im Beruf, bevor er sich in einem schmalen Ladenlokal an der Kaiserstraße selbstständig macht. Vollsortiment auf engstem Raum, Bücher bis zur Decke, Schulz liest und liest, holt so nach, was er in der Schule versäumt hat. Heute spricht er fließend fünf Fremdsprachen und zudem Bretonisch, was einem Bürgermeister mit bretonischer Partnerstadt gut zu Gesicht steht.

1987 wird er gewählt, mit 31 Jahren ist er der jüngste Bürgermeister Nordrhein-Westfalens. Schulz gründet ein Weiterbildungszentrum für arbeitslose Bergleute, lockt neue Industrie in die Stadt. Davon profitiert Würselen bis heute: Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wird die einst sterbende Zechenstadt auch in den nächsten Jahren Boomtown bleiben. Da helfen natürlich die günstige Verkehrslage an Autobahnkreuz und Dreiländereck sowie die 9000 Beschäftigten und 44.000 Studenten der nahen RWTH Aachen. Junge, innovative Unternehmen aus dem Dunstkreis der Technischen Hochschule strömen ins Würselener Gewerbegebiet. Zum Beispiel „Goal Control“: Die Firma entwickelte die komplexe Torlinientechnik für die Fußball-WM 2014 in Brasilien.

Man kann sich wundern über die Innovationsfreude der Kleinstadt am Rand der Republik: Im gesamten Stadtzentrum gibt es kostenfreien Internetzugang für Mobilgeräte, 99,7 Prozent der Haushalte verfügen über schnelle Breitbandverbindung, seit neun Jahren werden alle städtischen Schulen mit Laptops für die Schüler ausgestattet. „Damit die Kinder lernen, dass man mit Computern noch was anderes machen kann als Ballerspiele“, sagt Bürgermeister Nelles. Und damit den IT-Unternehmen im Gewerbegebiet nicht der Nachwuchs ausgeht. Ferner hat Würselen ein Klimaschutzkonzept, in der City eine Car-Sharing-Station – und bei ausgeglichenem Haushalt noch Geld übrig, um jungen Geringverdienern den Kauf von Verhütungsmitteln zu bezuschussen.

In der Espresso-Bar am Markt nehmen die älteren Damen am Vierertisch gern ein Stückchen vom selbst gebackenen Kuchen zum Kaffee. „Der Herr Schulz, der kommt aus der Mitte“, sagt Petra Reimer über den Mitbürger, und die Damen nicken eifrig. „Der hat es auch ohne Abitur zu was gebracht. Der sagt, was er denkt, sogar dem Berlusconi, der bringt es auf den Punkt, aber immer höflich, nie verletzend.“ Der Versuch, an diesem Werktag jemanden in der Stadt mit gegenteiliger Meinung zu finden, scheitert kläglich. Selbst im Büro der CDU-Fraktion im Rathaus. Es scheint so, als habe ganz Würselen nur auf den Tag gewartet, eine 39.000-köpfige ehrenamtliche Presseabteilung für den Kanzlerkandidaten zu bilden.

Suche nach Negativschlagzeilen

Der Berliner „Tagesspiegel“ entsandte einen Reporter, um wenigstens einen einzigen dunklen Fleck in der elfjährigen Amtszeit des Ex-Bürgermeisters zu finden. Der gefundene Fleck heißt Aquana. Das Spaßbad mit Piratenschiff, Abenteuer-Rutschen und Saunalandschaft am Willy-Brandt-Ring. Der Reporter schrieb: „Für Würselen gerät es zum Fiasko schönefeldesker Ausmaße.“ Das hat Frohnatur Arno Nelles doch geärgert: „Im Gegensatz zur Flughafen-Baustelle Berlin-Schönefeld zählt das Aquana 300.000 Gäste pro Jahr.“

Das alte, marode Freibad mitten in der Stadt kam nur auf 80.000 Besucher jährlich. Dessen Sanierung hätte 15 Millionen Mark gekostet; der Bau des nagelneuen Aquana am Stadtrand wurde auf 20 Millionen Mark veranschlagt. Der Betriebskosten-Zuschuss der Stadt fürs Freibad lag schon in den 80er Jahren bei einer Million Mark pro Jahr, der fürs Aquana belastet die Stadtkasse mit 800 000 Euro (Stand 2016). Auf dem üppigen Grundstück des abgerissenen Freibades entstand ein neues, attraktives Wohnviertel mitten in der Kleinstadt, die unter chronisch knappem Wohnraum und Mietpreisen auf Großstadt-Niveau leidet.

Soweit die Fakten. Aber das Thema Freibad-Abriss war damals emotional extrem aufgeladen. Der Würselener Bildhauer Albert Sous gründete eine Bürgerinitiative und sammelte 4000 Unterschriften für ein Bürgerbegehren. Schulz lehnte den Antrag ab, weil der Bürgerinitiative ein Formfehler unterlaufen war, und setzte die Mehrheitsentscheidung des Stadtrates um. Alles kam wie geplant – außer, dass der private Investor sich auf und davon machte. Um die drohende Insolvenz zu verhindern, übernahm die mit 20 Millionen Euro bürgende Stadt die Baustelle und alle Verbindlichkeiten.

In der Buchhandlung gleich neben Fielmann an der Kaiserstraße, die Martina Schillings, ehemals Azubi bei Schulz, 1992 vom Gründer übernahm, ist die Schulz-Biografie gut sichtbar platziert. Darin bekennt der Ex-Bürgermeister, die Ablehnung des Antrags sei „der größte Fehler meines politischen Lebens“ gewesen: „Ich hätte ihnen sagen sollen, korrigiert euren Formfehler, dann lassen wir die Volksabstimmung zu.“

Ja, das war damals ein großes Drama in der kleinen Stadt. Was Petra Reimer nicht in ihrer Meinung beirrt: „Was ich an Würselen schätze? Dass man hier so undramatisch leben kann.“

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